… liegt im Auge des Betrachters. In unserer Interviewreihe „Mein perfektes Zuhause“ befragen wir regelmäßig Personen aus dem Metier des Baus oder darüber hinaus, was für sie das perfekte Zuhause ausmacht.
Über das mehrfach ausgezeichnete Projekt „Casa Rossa“ in Chemnitz wurde schon viel geschrieben und berichtet. Das ursprünglich 1910 errichtete Gründerzeitgebäude auf dem Chemnitzer Sonnenberg, das über Jahrzehnte lang dem Verfall überlassen war und nur durch eine Zwangsersteigerung gerettet werden konnte, ist ein besonderes Beispiel für „Bauen im Bestand“. Besser als mit den Juryworten des Heinze Awards, bei dem die Casa Rossa den Sonderpreis Nachhaltigkeit 2020 erhielt, lässt sich das Projekt kaum zusammenfassen:
„Mit wenigen, intelligenten Interventionen kreierten […] [bodensteiner fest Architekten BDA] ein einzigartiges und faszinierendes Wohnhaus, dessen architektonische Idee weit über seinen alltäglichen Zweck hinausreicht. Aus der Sensibilität ihrer Eingriffe in den Bestand spricht die klare architektonische Auffassung der Planer, welche sich ganz aus dem Respekt vor dem physischen und kulturellen Gehalt der vorhandenen Substanz speist und zugleich einer langfristigen Nutzbarkeit verpflichtet ist. […] Die Jury empfindet die Casa Rossa als beispielhaften Beitrag einer im eigentlichen Sinn nachhaltigen Baukultur. Also einer typologisch orientierten Bauweise, die materiell wie ästhetisch eine wirklich dauerhafte Nutzung anstrebt und sich anstelle technischer Lösungen an den einfachen Möglichkeiten und Qualitäten der bestehenden Bausubstanz orientiert.“ […]
Wir von Bricks Don’t Lie – neben zahlreichen anderen Preisen war die Casa Rossa 2022 beispielweise auch für den Brick Award nominiert – wollten wissen, welcher Kopf hinter einer Herangehensweise wie dieser steckt. Gemeinsam mit Architektin Annette Fest war es Christian Bodensteiner, der als Architekt, Bauherr, und letztlich nun als Vermieter der Casa Rossa, das Projekt entdeckte, vorantrieb und in seiner jetzigen Form 2020 zur Vollendung brachte. Wir wollten genauer wissen, wer dieser Mann ist, was ihn antreibt und was seine Arbeit und Überzeugung ausmacht.
Wir treffen Christian Bodensteiner an einem der wenigen strahlenden Apriltage 2022. Es ist kühl, als der Münchner, frisch aus seiner Heimatstadt in Chemnitz angereist, auf dem Sonnenberg aus seinem Auto steigt. Die Sonne erstrahlt die Fassaden der hübschen Gründerzeitgebäude in der Gießerstraße und verleiht der charakteristischen Ziegelfassade der Casa Rossa mit ihren roten Fenstern ein besonderes Flair. Nicht zum ersten Mal fällt uns das Gebäude ins Auge – lange vor unserem Treffen mit Christian Bodensteiner und das Bewusstsein um die architektonischen Schätze und Besonderheiten des Chemnitzer Sonnenberges fiel bei einem unserer Streifzüge durchs Viertel das Gebäude ins Auge. Die Ursprünglichkeit und Rauheit der Fassade durch die sichtbar gelassenen Ziegel. Die Schlichtheit und Großzügigkeit des Hauses durch schmucklose, sprossenfreie Fenster. Es fiel auf, es war anders, es war besonders.
Sowieso ist die Ziegelfassade und der Erhalt des extrem marode gewordenen Ziegelbaus in dieser Form sicher beispiellos. Gewürdigt wurde die Casa Rossa entsprechend 2021 mit dem Sonderpreis „Bauen im Bestand“ des Deutschen Ziegelpreises. Dieser zeichnet „herausragende Architektur und Ingenieurbaukunst aus, die aus energetisch vorbildlichen und gestalterisch überzeugenden Ziegelbauten besteht. Die Gebäude sollen dem nachhaltigen, Ressourcen schonenden Bauen verpflichtet sein und positiv zur Gestaltung des öffentlichen Raumes beitragen“, heißt es auf der Webseite des Deutschen Ziegelpreises.
Nun stehe ich wieder hier vor der Gießerstraße 41 mit seiner rauen und doch strahlenden Fassade – zusammen mit einem der beiden Neudenker und Neuerschaffer, mit seinem Substanzretter und kreativen Denker: Christian Bodensteiner.
Geboren 1966 studierte er ab 1987 Architektur an der Hochschule in München und arbeitete später bei Prof. Dr. Dr. h.c. Roland Rainer, Prof. Dr. h.c. Kurt Ackermann und Partner, bei lauber + wöhr architekten, sowie im Atelier Prof. Hubertus Menke. Ursprünglich eigentlich als Überbrückung gedacht, um schließlich das Studium des Industriedesigns aufzunehmen, stellte der junge Student jedoch rasch fest, dass das Architekturstudium genau das Richtige sei. Dieses „Langfristige“, wie er es beschreibt, sei im Gegensatz zum eher kurzlebigen, mehr den Moden unterworfenen Designthema genau sein Ding gewesen.
Wenn Architekturprojekte etwas erfordern, dann ist es zweifelsohne langfristiges Denken und Planen. Bei einem Bestandsbau wie der der Casa Rossa inklusive. Hinzu kommt hier, dass man mutig genug sein muss, eine Vision für ein für viele längst tot geglaubtes Gebäude zu entwickeln, eine Vision, die über Jahre Bestand hat, die Widrigkeiten und Unabwägbarkeiten des Planungs-, Bau- und Sanierungsprozesses überdauert. Eine Vision für einen weiteren Fortbestand über Jahrzehnte und gar Jahrhunderte. Eine Vision für etwas, wofür vielen gänzlich die Vorstellungskraft fehlt.
„Das ist natürlich unser Job!“, bestätigt Christian Bodensteiner mit funkelnden Augen – wortloser Ausdruck der Begeisterung für sein Metier. Vieles sei in seinem Kopf oft schon so klar, noch vor der ersten Skizze. Wie bei der Casa Rossa. Gemeinsam mit seinen beiden Co-Bauherren Annette Fest und Daniel Stroux sei es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Das von Pflanzen bewucherte und bisweilen eingefallene Gebäude habe es den dreien sofort angetan. Tolle Lage, tolle Grundrissdisposition und Bauen im urbanen Raum. Das sei es, was ihn interessiere. Bodensteiner spricht liebevoll über das Gebäude – wie über etwas, was man jahrelang gehegt und gepflegt hat, Beziehung aufgebaut hat und am liebsten für immer erhalten will.
Wir wollen wissen, wie die Architekten bei der Gebäudesuche überhaupt auf die Stadt Chemnitz gekommen sind. „Wir sind Münchner – da ist alles saturiert und seit Jahrzehnten schon fertig, und das ist natürlich irgendwo auch langweilig“, lacht Christian Bodensteiner. Mit dem Wunsch, einmal selbst als Bauherren tätig zu werden, kamen sie dann mit Jugendfreund, dem Politologen Daniel Stroux, schnell auf die Idee, in einer Stadt wie Leipzig oder Chemnitz aktiv zu werden. Speziell der Chemnitzer Sonnenberg sei dabei interessant gewesen, der laut Bodensteiner etwas Großstädtisches an sich habe, man finde Brüche vor, arm und gut situiert nah beieinander, es passiere viel in dieser urbanen Umgebung, die im Gegensatz zum Chemnitzer Viertel Kaßberg noch nicht komplett durchsaniert worden sei. Das fanden und finden die Architekten spannend, auch die Tatsache, dass dieses Viertel aus Chemnitzer Sicht eher „das schlechte Viertel“ sei – dessen negativ behaftetes Bild jedoch nicht mehr aktualisiert wurde. Es sei ein Viertel mit enormem Potenzial.
So nahm das Experiment „Projekt Casa Rossa“, welches aufgrund der roten Ziegel seinen Namen erhielt und laut Bodensteiner etwas italienisches Flair in den Straßenzug bringen soll, seinen Lauf. Ende 2016 ersteigert, begannen 2017 die Planungsarbeiten und im Jahr darauf die Sanierungsarbeiten. Mit der Vollendung Anfang 2020 wurden alsdann alle Wohnungen recht schnell vermietet, erklärt der nachhaltigkeitsbewusste Architekt, der nach eigenen Aussagen gern selbst im Gebäude wohnen würde – am liebsten im dritten Stock – dem Brick Loft. Hier sei man einen Schritt weiter gegangen als in den restlichen Wohnungen: die Wände in Flur und Wohnküche wurden als zusammenhängender 65 m² großer Bereich ohne Türen komplett in lasierten Sichtziegelwänden gehalten. Rauheit, Echtheit und authentische Ästhetik für Mieter, die genau das zu schätzen wissen. Mieterin Julia Stopp erzählt, es sei ein glücklicher Zufall gewesen, diese Wohnung gefunden zu haben. „Das war die erste Wohnung, die wir uns angeschaut haben. Und wir haben gleich gesagt: ‚Die ist es!‘, mit den Ziegeln, so offen – wir fühlen uns hier total wohl.“
Christian Bodensteiner, der sich in seiner Freizeit gern mit der arabischen Welt und Sprache auseinandersetzt, interessierte sich von Beginn an für den Bereich „ökologisches Bauen“, wie es damals genannt wurde. Es habe zu seinen Studienzeiten noch in den Kinderschuhen gesteckt und zudem waren es nur Einfamilienhäuser, die unter dieser Bezeichnung entstanden seien. Das sei für den reflektierten und bewussten Architekten von Beginn an ein Widerspruch in sich gewesen. „Ein EFH ist per se nicht ökologisch oder zumindest nicht das ökologische Vorbild. Wir müssen diese Gedanken in den urbanen, dicht bebauten Kontext bringen.“ Erst in den letzten Jahren sei das Bewusstsein dafür in der breiten Gesellschaft angekommen.
Ihr eigenes Architekturbüro bodensteiner fest Architekten BDA Stadtplaner PartGmbB haben Annette Fest und Christian Bodensteiner 2005 gegründet. In vielen bestehenden Büros haben sie sich „nicht wirklich gesehen“. Sie wollten bewusst eigene Wege gehen.
Wo diese hinführen – wir sehen es vor uns, an diesem sonnigen Apriltag im Jahr 2022 auf dem Chemnitzer Sonnenberg. In der Jurybegründung des Deutschen Nachhaltigkeitspreis 2022, bei dem die Casa Rossa in die finale Auswahl kam, ist die Rede von „Vorreiter der Transformation im Bausektor“ und „Pionier der Umbauwende“.
Hinzuzufügen ist zu diesen Worten wohl kaum etwas. Vielleicht, dass die Finalistenrolle bei diesem stark wahrgenommenen und wichtigen Preis Bodensteiner besonders erfreut hat. Es passiere gerade eine Änderung in der Wahrnehmung. „Die Nachhaltigkeitskriterien waren lange Zeit sehr zahlenbasiert“, erklärt er. Die Gestaltungsqualität sei aber auch ein Nachhaltigkeitsfaktor und laut Bodensteiner ein ganz wesentlicher. Denn ein gut gestaltetes Gebäude reiße man eben nicht einfach so ab. „Schon allein aus Klimaschutz-Gründen ist es wichtig, den Bestand zu erhalten und weiterzuentwickeln“, ist der nachhaltig-orientierte Stadtplaner der Meinung. Etwas, was in den Metropolen noch viel zu oft vorkomme – man reiße funktionierende Häuser ab, da man noch etwas mehr Geschoßfläche realisieren könne, getrieben durch „völlig aus dem Ruder geratene Bodenpreise“, wie Bodensteiner erklärt.
ES IST GANZ WICHTIG, DASS MAN NICHT ALLES ABREISST.
Christian Bodensteiner
Das Thema soziale Bodenpolitik ist ein weiteres Thema, das dem behänden Münchner Stadtplaner und Architekten am Herzen liegt. „Wir hätten das Thema schon längst angehen müssen“, alarmiert Bodensteiner, der selbst zur Miete in einer Wohnanlage aus den 20er Jahren in Neuhausen-Nymphenburg im Münchner Westen wohnt. Die stattfindenden Verdrängungsprozesse würden eine sehr bedrohliche Situation darstellen. Bodensteiners Sensibilität für gesamtgesellschaftliche Themen brechen ganz neue Sphären im Gespräch auf. Fakt ist: Der Anteil des Bodenpreises am Kaufpreis einer neuen Eigentumswohnung sei beispielsweise in München innerhalb von 10 Jahren von 40 Prozent auf 70 Prozent gestiegen – es sei nicht das Haus, sondern der Boden, der dort so teuer ist.
Zurück nach Chemnitz, zurück zur Casa Rossa. Hier sei man nicht den üblichen Weg gegangen, alles zu „übertünchen“ und „alles, was nicht neu ist, schick zu machen“, wie Bodensteiner es formuliert. Ihn interessiere vielmehr, „Bestand wirklich als Ressource zu begreifen und als etwas, was ich kreativ umgestalten kann.“ Es klinge banal, sagt er, sich bei einem Gebäude zu überlegen: „Was kann man daraus machen, was steckt hier dahinter?“, jedoch habe es sehr viel mit Gestaltungswillen zu tun. Dinge herausarbeiten, Schönheit sehen, Details entdecken und neu aufgreifen. Bei der Casa Rossa seien das zum Beispiel die Deckenhöhen gewesen, die original wieder hergestellt wurden, um die ursprünglichen Wohnungstüren nach Austausch der Geschoßdecken wieder exakt einpassen zu können.
Auch die Fassade des Gebäudes, die Bodensteiner besonders fasziniert, wurde mit ihren Eigenheiten und Details weitgehend so erhalten, wie sie vorgefunden wurde. „Hier gibt es unheimlich viele Unregelmäßigkeiten und Ungereimtheiten, die man erst auf den zweiten Blick sieht“, erklärt er begeistert. Man habe unterschiedliche Kassettierungen unter den Fenstern, unterschiedliche Fensterstürze aus Stahl oder Beton, ein fehlendes Sockelstück. „Das sind Details, die man sich erst nach und nach erschließt und dieses Unperfekte macht einen Teil des Charmes des Hauses aus.“ Die früher verputzte Fassade ist heute in ihrer Einfachheit und doch Besonderheit sichtbar, nachdem sie neu ausgefugt und mit einer hellen Lasur versehen wurde, um Unregelmäßigkeiten zu nivellieren und das gesamte Haus aufzuhellen.
Hinter die Fassade dieses einzigartigen Projektes und seines (Neu)-Schöpfers blicken zu können, war für Bricks Don’t Lie Highlight und Privileg zugleich. Dran zu sein an Menschen, die neu denken, die vordenken und andere Wege gehen – das ist, was uns fasziniert und was wir weitergeben wollen. Und vielleicht strahlt schon bald einen neue – alte – Casa irgendwo in Deutschland in sein Viertel hinein. Wenn bestehende Bausubstanz erkannt, angepackt und erneuert wird. Christian Bodensteiner jedenfalls ist schon auf der Suche nach einem neuen Projekt, dem er wieder Leben einhauchen kann.
Text: Marit Albrecht
Titelbild: © Steffen Spitzner
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