03-2024
03-2024

Wie die Bauwende gelingen kann — ein Vier-Punkte-Programm

Eine ganze Branche befindet sich im Umbruch: Baustoffhersteller tüfteln an kreislauffähigen Produkten, Projektentwickler setzen verstärkt auf Nachhaltigkeitskriterien, der Holzbau und andere natürliche Baustoffe erleben einen Aufschwung, viele Architekten widmen sich zunehmend dem Gebäudebestand statt dem Neubau und junge Architekturschaffende wenden sich ab vom Bild des „Stararchitekten“, der sich ausschließlich über Design definiert.

Vielen wird zudem vermehrt der hohe Wert und die Endlichkeit von Ressourcen bewusst. So auch Gerhard Feldmeyer, Architekt und ehemaliger geschäftsführender Gesellschafter von HPP Architekten, über den wir im persönlichen Porträt bereits berichtet haben.

Seit anderthalb Jahren engagiert sich der 67-Jährige für ein Umdenken in der Baubranche und bezeichnet sich selbst als „Bauwende-Beschleuniger“. Für ihn sind vier Punkte für eine tiefergreifende Bauwende und eine allumfassende Kreislaufwirtschaft unabdingbar:

1. Typologische Zirkularität von Gebäuden

Kreislaufwirtschaft beginnt mit der Konzeption und Planung von Gebäuden. Laut Feldmeyer müssten Architekten lernen, Gebäude von ihrer Struktur her so zu konzipieren, dass der Rohbau mehrere hundert Jahre stehen könne. Eine Zweit- und Drittnutzung müsse von Anfang an mitgedacht werden und die Typologie eines Gebäudes müsse flexibel und reversibel sein. Momentan wird die Lebensdauer eines Gebäudes auf 50 Jahre datiert. Feldmeyer sagt selbst: „Auch während meines Architektendasein haben wir viele Gebäude abreißen lassen, die dieses Alter noch nicht einmal erreicht hatten. Das ist eine Katastrophe.“ Seiner Meinung nach müsse die Rohbaustruktur mindestens 200 Jahre nutzbar sein, da bis zu 50 Prozent CO2 allein im Rohbau stecken.

Eigentlich haben wir es mit einer super Branche zu tun. Sie ist zwar im Moment noch sehr schädlich, aber innerhalb von wenigen Jahrzehnten könnte sie eine klimapositive und damit sehr nützliche Branche für den Planeten werden.

Gerhard Feldmeyer

2. Bauen im Bestand

Über Jahrzehnte hinweg war Tabula rasa das präferierte Vorgehen. Bauen im Bestand galt generell als unwirtschaftlich. Heute müsse man sich differenziert mit jedem Bestandsgebäude auseinandersetzen, so Feldmeyer, und die Substanz anhand zahlreicher technischer, funktionaler, ökologischer, sozialer und ökonomischer Kriterien überprüfen. Wird ein Gebäude teilweise oder ganz abgerissen, müsse die darin gebundene graue Energie ermittelt und auf die Gesamtbilanz angerechnet werden. Früher oder später werde es Vorgaben geben, wie viel CO2 (graue Energie) für einen Quadratmeter Nutzfläche aufgewendet werden darf, ist Feldmeyer überzeugt. Neben der Erfassung der grauen Energie eines Gebäudes müssen alle Materialien, Bauteile und Produkte, die im Rahmen von Instandhaltung und Sanierung das Gebäude verlassen, dem Re-use (Wiederverwendung) oder dem Recycling zugeführt werden. Gleichzeit müssen die neuen, die in das Gebäude eingebracht werden, in einem Gebäuderessourcenpass dokumentiert werden, und zwar digital, so Feldmeyer.

Bauen im Bestand ist das große Thema der kommenden 50 Jahre. 99,9% der Baustoffe stecken im Gebäudebestand.

Gerhard Feldmeyer

3. Digitalisierung effizient nutzen

Sowohl beim Neubau als auch im Umgang mit dem Bestand sieht Gerhard Feldmeyer die Digitalisierung als Schlüssel an. „Nur so können die Daten effektiv und dauerhaft in einem Materialkataster registriert werden und über den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes wann immer nötig aktiviert und aktualisiert werden“. Der digitale Gebäuderessourcenpass mit Angaben zu den verbauten Materialien, ihren Inhaltsstoffen und ihrem Wert sei obligatorisch. Alle Daten der beteiligten Planer, der ausführenden Firmen und der Produkthersteller müssten in einem Datenmodell gespeichert werden und können so den „digitalen Zwilling“ des realen Gebäudes abbilden. „So entsteht in Zeiten knapper werdender Ressourcen ein Materiallager, anstatt wie in der Vergangenheit ein Schadstoffdepot“, erklärt Feldmeyer. Die digitale Verknüpfung mit den Produktherstellern sei von besonderer Bedeutung. Auf diese Weise würde die Aufarbeitung und Weiterverwendung eines Produktes erst möglich gemacht. „Denn Re-use geht immer vor Recycling“.

4. Produktverantwortung bleibt beim Hersteller

„Wir müssen dahin kommen, dass die Hersteller in der Produktverantwortung bleiben“, so Feldmeyer. „Das ist langfristig auch in deren Interesse.“ Es sei ökonomisch nicht sinnvoll, dass ein Hersteller nach dem Verkauf seines Produktes dieses „aus den Augen verliert“. Nicht ohne Grund komme es in jüngster Zeit immer mehr zu Hersteller-Rücknahmevereinbarungen, erklärt Feldmeyer. Die Erkenntnis, dass es ein Vorteil ist, Ressourcen zurückzugewinnen, setze sich zunehmend durch. Neben der Verfügbarkeit sei auch der CO2-Fußabdruck ein Thema. Sekundärressourcen seien in vielen Fällen durch den Entfall von Prozessschritten einfach weniger CO2-intensiv. „Wenn der Hersteller im Boot bleibt, funktioniert auch Re-use für eine Vielzahl von Produkten und Bauteilen, da ansonsten die fehlende Gewährleistung oder Zulassung ein Hindernis darstellt. Zwar hat der Gesetzgeber auch noch Hausaufgaben zu machen, aber die Themen sind bekannt und auf dem Weg.“

Ein gut gewartetes, langlebiges Gebäude hat Vorteile für alle, nicht zuletzt für den Planeten.

Gerhard Feldmeyer

Zusätzlich bedürfe es neuer Geschäftsmodelle, da nicht jeder Hersteller über die nötige Logistik oder das Know-how von Recyclingverfahren verfüge. Auch im Bereich Wartung und Reparatur müsse sich noch einiges tun. „Das kann ein regelrechtes Konjunkturprogramm werden“, so Feldmeyer, der darin auch eine riesige Chance für Immobilienbesitzer sieht. „Ein gut gewartetes, langlebiges Gebäude hat Vorteile für alle, nicht zuletzt für den Planeten.“

Blickt optimistisch in die Zukunft: Gerhard Feldmeyer, Architekt und ehemaliger geschäftsführender Gesellschafter von HPP Architekten, bezeichnet sich selbst als „Bauwende-Beschleuniger“.
Foto: © Chris Rausch

Der innovationsgetriebene Architekt blickt insgesamt optimistisch in die Zukunft: „Eigentlich haben wir es mit einer super Branche zu tun. Sie ist zwar im Moment noch sehr schädlich, aber innerhalb von wenigen Jahrzehnten könnte sie eine klimapositive und damit sehr nützliche Branche für den Planeten werden.“ Einzig die überbordende Regulatorik bereite ihm Sorge. „Es herrscht momentan viel Überforderung aufgrund der zunehmenden ordnungsrechtlichen Anforderungen und der schnell fortschreitenden Veränderungen. Etwas mehr Standardisierung täte gut. Es betrifft alle – Unternehmen, aber auch den Normalbürger der sich unvermittelt mit kostspieligen Sanierungen in Zusammenhang mit seinem Wohneigentum konfrontiert sieht. Wir müssen alle mitnehmen.“


Text: Marit Albrecht

Titelfoto: © Shutterstock