Eine alte Schokoladenfabrik zum Leben erwecken? Wie das möglich ist, was es für das Architektenteam bedeutet und wie dadurch ein Stadtteil neu belebt wird — all das haben wir uns in Dresden angeschaut.
Chemnitz – „Stadt der Moderne“. Über den Wahrheitsgehalt dieses Slogans gibt es unterschiedliche Meinungen. Größere Schlagzeilen machte Chemnitz mit dem im Jahr 2007 offiziell eingeführten Slogan jedoch nicht. Sicherlich hat sich in der etwas über 240.000 Einwohner starken Stadt seit der Wiedervereinigung 1990 viel getan, die Innenstadt wurde neu gestaltet, Flächen attraktiver gemacht, Kunst und Kultur werden hochgehalten und der Kulturhauptstadttitel hat ordentlich Auftrieb gegeben.
Von „Stadt der Moderne“ zu sprechen schien dennoch vielen überzogen, die Chemnitzer selbst konnten sich damit wohl ebenso wenig identifizieren wie Zugezogene. Mit dem Titel der europäischen Kulturhauptstadt 2025 will Chemnitz das bisherige Motto gar ablösen, berichtete die Leipziger Volkszeitung im letzten Jahr.
Doch nicht so schnell, könnte man angesichts eines Projektes sagen, das in Chemnitz und Umgebung sicherlich seinesgleichen sucht und dem Tor des Kaßberg, eines der größten Gründerzeit- und Jugendstilviertel Deutschlands, ein ganz neues Gesicht verleiht.
„Die tanzende Siedlung“ ist ein moderner Wohnkomplex aus der Feder des jungen Chemnitzer Architekten Rico Sprengers. Die Idee dazu kam von der Chemnitzer Siedlungsgemeinschaft eG unter Vorstand Ringo Lottig, der, wie er sagt „etwas anderes, etwas ganz Neues“ schaffen wollte.
Entstanden sind zwischen 2019 und 2021 vier Gebäude mit insgesamt 40 modernen Mietwohnungen mit einer Fläche von jeweils ca. 80 m2 bis ca. 123 m2. Das Areal verfügt über eine Tiefgarage und einen Carport, die jeweils mit Ladepunkten für Elektrofahrzeuge ausgestattet sind. Über Photovoltaikanlagen auf den Dächern der Häuser wird Strom produziert. Alle Gebäude sind zudem mit digitalen touchscreenfähigen Haustafeln ausgerüstet, über die man sich neben dem Wetter und den Echtzeitfahrplänen des ÖPNV beispielsweise auch über das nächstgelegene teilAuto informieren kann. Die Lage an der Kaßbergauffahrt war lange Zeit eine ungenutzt Brache, galt aber dennoch als „Balkon von Chemnitz“. Entsprechend sollte laut Lottig an der Stelle ein besonderer Bau entstehen.
„Wir stehen hier auf Chemnitzer Grund und Boden. Hier haben Chemnitzer Architekten geplant, hier haben Firmen aus Chemnitz und der Region gebaut und es ist bezahlt mit Geld aus unserer Spareinrichtung – mit Chemnitzer Geld. Und: Hier wohnen Chemnitzer. Das ist der Punkt, das ist, was wir wollten“, so der innovative Sachse. In Stollberg geboren ist Ringo Lottig selbst in Chemnitz großgeworden und wollte mit der „Tanzenden Siedlung“ auch ein stückweit etwas für seine Stadt tun. Es sei ein reines Chemnitzer Thema.
Natürlich kann man fragen, warum bei einem Gebäude-Leerstand von über 10 %, wie es in Chemnitz der Fall ist, neu gebaut wird. Lottig meint dazu: „Man muss sich auch irgendwo erneuern.“ Zudem sei die Vermietung von Anfang an nie ein Thema gewesen. Das Marktsegment sei da und gefragt.
Der Wunsch, „den Leuten etwas Besonderes zu zeigen“, sich selbst als Siedlungsgemeinschaft zu erneuern und nicht zuletzt auch etwas für die Stadt zu tun, hat dieses Projekt (tanzende) Form annehmen lassen. Ein Projekt, das mit seiner Andersartigkeit, seiner unkonventionellen Form und den offenen und einladenden Außenflächen eine Frische ausstrahlt, die der Stadt nur guttun kann. Würde man vor der Aufgabe stehen, Lebensfreude und Optimismus architektonisch umsetzen zu müssen – die tanzende Siedlung könnte eine gute Versinnbildlichung dafür sein.
Auch der Name spricht für sich. Als Architekt Sprenger im Gespräch mit Lottig davon sprach, wie der Gebäudekomplex und auch die Außenanlagen durch das Gelände „tanzen“, war der Name schon halb geboren. Inspiriert von den Tanzenden Türmen in Hamburg sollte das neu entstandene Projekt auf dem Kaßberg von da an „Die tanzende Siedlung“ heißen. „Wir geben unseren Projekten gern einen Namen. Denn es ist etwas anderes, in der Tanzenden Siedlung zu wohnen als in der Hohen Straße“, so Ringo Lottig. „Die Häuser sehen von jeder Seite etwas anders aus“, erklärt er weiter. Das Gelände drehe sich und je nach Blickwinkel ändert sich für den Betrachter die Ansicht.
Dieses Motto setzt sich auch im Bereich der Außenanlagen fort. Die sogenannten „Tanzenden Steine“, ein kunstvoller Brunnen entworfen vom Münchner Skulpteur Christian Tobin, lockert das Areal zwischen den Wohnhäusern auf und setzt einen spielerischen Akzent. „Die Steine bewegen sich hin und her und drehen sich zusätzlich. Es ist etwas Surreales, hier bleibt man stehen. Das sind einfach Außenqualitäten, die die Anlage aufwerten und uns generell wichtig sind.“
Eine weitere Besonderheit des Außenbereichs ist eine Stele, die der am 3. September 1869 in Chemnitz geborenen Malerin Helene Funke gewidmet ist, die unter anderem in München, Paris und Wien tätig war und zu einer bedeutenden Vertreterin der Moderne zählt.
Ein Qualitätsprojekt – welches laut Lottig zu diesem Preis, in dieser Qualität und mit diesem Raum nirgends in Berlin, Hamburg oder München zu finden sei. Lottig erklärt, man habe die gerade so noch verträgliche geringste Wohnfläche gebaut, die wirtschaftlich möglich war. „Wir hätten auch 70 bis 80 Wohnungen bauen können.“ Doch hat man sich für die Hälfte entschieden – zugunsten der großzügigen Außen- und Grünanlagen, die dem gesamtem Komplex Raum, Fläche und damit Qualität geben sollen.
Mit ca. 10,60 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter liegen die Wohnungen der tanzenden Siedlung für Chemnitzer Verhältnisse im höheren Preissegment. Im Bundesvergleich jedoch wird Ringo Lottig wohl recht behalten – eine vergleichbare Wohnung in den Metropolen Deutschlands zu finden, dürfte nahezu ein Ding der Unmöglichkeit sein.
Bilder: © Bricks Don’t Lie, Marit Albrecht
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