Autarkes Leben durch Rückzug auf das Wesentliche oder weltfremdes Wohnkonzept, welches im Alltag mittelfristig scheitert? An „Tiny Houses“ scheiden sich die Geister. Wir haben uns das Konzept genauer angeschaut.
„Europa nimmt sich Bauen und Wohnen explizit vor als Teil einer Klimaschutz- und Resilienz-Strategie“, fasst Ruth Schagemann, Architektin und Präsidentin vom Architects‘ Council Europe (ACE) während ihres Auftrittes beim Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen vergangenen Februar zusammen.
Selbstverständlich war das lange nicht. Laut Schagemann jedoch weichen alte Strukturen nun langsam auf – mit dem übergeordneten European Green Deal ist das Thema Nachhaltigkeit ganz oben angekommen. Das Europäische Klimagesetz von 2021 setzt nun das verbindliche Ziel, europaweit bis 2050 klimaneutral zu werden. Das macht auch vor der Architektur- und Baubranche nicht Halt.
„Die Notwendigkeit für einen Paradigmenwechsel beim Planen und Bauen wird europaweit anerkannt. Nach der Debatte ist es jetzt an der Zeit, tatsächlich zu handeln.“
Schagemann sieht die bevorstehenden Veränderungen als den größten Transformationsprozess seit der Einführung des EU-Binnenmarktes 1993 unter dem damaligen Präsidenten der Europäischen Kommission Jacques Delors.
Die Baukultur habe bis dato auf europäischer Ebene immer ein bisschen den Beigeschmack eines „nice-to-have gehabt“, wie die Stuttgarter Architektin es nennt. Abgetrennt „von der harten energie- und umweltpolitischen Diskussion und den dort entstehenden Legislativvorschlägen.“
Zudem hat die EU im Bereich Kultur kein Eingriffsrecht. Sie kann dort keine Richtlinien oder Verordnungen erlassen. Dies sei originäres Recht der Mitgliedstaaten und jegliche Arbeit in diesem Feld erfolge freiwillig, in speziellen offenen Arbeitsgruppen (auch OMK-Gruppen genannt). Diese sollen den Informationsaustausch zu bestimmten Themen zwischen den EU-Mitgliedstaaten fördern. Wie machen unsere Nachbarn das? Wie baut man in anderen Ländern?
Als Beispiel führt Schagemann Spanien an. Dort stehe man im Parlament kurz davor, ein Architekturgesetz zu verabschieden, welches der ACE mit auf den Weg gebracht hat. Die entsprechende – freiwillige – Arbeitsgruppe dazu nannte sich „Eine qualitätvoll gebaute Umwelt“. „Darein müssen wir investieren“, so Schagemann.
„Eine qualitätvoll gebaute Umwelt. Darein müssen wir investieren.“
Ruth Schagemann
Ziel des Gesetzes sei es, die Architektur als Gut der Daseinsvorsorge anzuerkennen, Qualitätsprinzipien im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe sicherzustellen und die unterschiedlichen Fachdisziplinen zusammenzubringen, erklärt die 47-Jährige, die neben ihrer Präsidentschaft beim ACE auch in der Architektenkammer Baden-Württembergs aktiv ist.
„ARCHITEKTUR MUSS ALS GUT DER DASEINSVORSORGE ANERKANNT WERDEN.“
Ruth Schagemann
Apropos zusammen: Laut einer Studie des Architects‘ Council of Europe machen Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien zusammen Dreiviertel des gesamten Bauvolumens in Europa aus, wie Schagemann angibt. 13 Millionen Angestellte gebe es im Bausektor, davon eine halbe Million Architektinnen und Architekten. „Wir sind tatsächlich nicht viele“, resümiert Schagemann, „aber wir spielen eine zentrale Rolle in allen Phasen der Transformation. Und mit einem gemeinsamen Ziel, eine qualitätvolle, lebenswerte und klimaneutrale Umwelt zu gestalten. Es heißt jetzt einfach Ärmel hochkrempeln und loslegen.“
Das trifft vor allem auch auf das Thema Renovierung zu. Die EU will durch eine sogenannte „Renovierungswelle“ die Sanierungsquote von Gebäuden in den nächsten zehn Jahren verdoppeln und auf diese Weise eine höhere Energie- und Ressourceneffizienz sicherstellen. Bis 2030 könnten 35 Millionen Gebäude renoviert und bis zu 160.000 zusätzliche grüne Arbeitsplätze im Baugewerbe geschaffen werden, heißt es in einer Pressemitteilung der Europäischen Kommission.
Laut Schagemann ist es eine Riesenchance, dass zum ersten Mal über die Qualität der gebauten Umwelt gesprochen wird und wie die Renovierungswelle zu einem kulturellen Projekt werden kann. Gleiches gilt für die Tatsache, dass der Graben zwischen Baukultur und der europäischen Klima- und Umweltpolitik gerade geschlossen wird.
„Die Architektinnen und Architekten spielen eine zentrale Rolle […], mit dem gemeinsamen Ziel, eine qualitätvolle, lebenswerte und klimaneutrale Umwelt zu gestalten.“
Ruth Schagemann
Ihrer Meinung nach ist es wichtig, dass Architektur, Landschafts- und Stadtplanung endlich wieder zusammengebracht wird. Und die Veränderung müsse beschleunigt werden. Endlich würden lang bekannte Fakten anerkannt werden, fährt die in Ecuador geborene Stuttgarterin fort, so beispielsweise, dass der Energieverbrauch der Bestandsgebäude EU-weit bei 40 Prozent liegt.
Dänemark und Frankreich haben laut Schagemann den höchsten Anteil im Bereich hocheffizienter Gebäudebestände. Deutschland habe diesbezüglich keine konsequente Datenerhebung vorliegen und tauche somit in den entsprechenden Statistiken gar nicht auf.
Italien und Spanien haben zwar die Daten vorliegen, aber auch einen höheren Bestand in nicht-effizienten Gebäude, erläutert Schagemann. Spanien würde bereits seit zehn Jahren ihre Daten systematisch erfassen, weswegen die spanischen Kommunen ihren Gebäudebestand sehr gut kennen. Die Datenerfassung beinhalte Energieverbrauch, Barrierefreiheit und Statik. Durch die EU-Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden EPBD soll die Datenerhebung in allen EU-Mitgliedstaaten sichergestellt werden.
Laut Schagemann ist 75 Prozent des Gebäudebestandes in Europa ineffizient. Diese „niedrig hängenden Früchte“ könnten aber durch smarte Ideen, Innovation und einfache Maßnahmen mit großer Wirkung gut geerntet werden, erklärt die Architektin weiter.
Maßnahmen, Ideen und Innovationen, für deren Entwicklung sich der Architects‘ Council mit Sitz in Brüssel schon seit Jahrzehnten einsetzt. Gegründet im Jahr 1990 in Treviso in Italien vereint der Dachverband 43 Mitgliedsorganisationen aus 31 europäischen Ländern und repräsentiert damit ca. 560.000 Architekten. Der Verband ist demokratisch organisiert und bearbeitet seine Themen neutral, das heißt, dass keine nationale Politik der einzelnen Mitglieder eingebracht werden darf.
Maßgeblich setzt er sich auch dafür ein, den eigenen Berufsstand zu stärken.
Der Architekt ist in ganz Europa ein regulierter Beruf, bei dem es um Haftung, Kompetenzen und Verantwortung für das Gemeinwohl geht, wie die Präsidentin des ACE erklärt. Verantwortlich ist er für die Planung des Projektes, die Qualitätssicherung, die Erteilung der Baugenehmigung und die Bauüberwachung. Und: Auf ihn komme es auch an, „wenn wir die ökologische Transformation unserer gebauten Umwelt in Europa schaffen wollen“, so Schagemann.
Dafür ist laut ihrer Meinung die Beteiligung ein ganz wesentlicher Faktor. Es gehe eben nicht nur um eine Familie, um ein Haus, was dann im urbanen Raum steht, sondern tatsächlich darum, die Menschen mitzunehmen. Zudem dürfe der Berufsstand Architektur nicht nur untereinander diskutieren, sondern müsse auch die Öffentlichkeit suchen. „Unsere erarbeiteten Informationen in die Breite zu tragen, das ist wichtig“, schließt Schagemann ab. „Kommunikation spielt eine wichtige Rolle.“
Text: Marit Albrecht
Titelbild: DGNB
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Das Thema Wärmepumpe ist aktueller denn je. Möglichkeiten gibt es viele – und Fragen auf Seiten von Bauherren ebenso. Wir haben uns von einem Experten aufklären lassen.