08-2022
08-2022

Architektour in Sachsen: Auf den Spuren von Hans Scharoun — Villa Schminke in Löbau

Architektonisch gesehen kann Sachsen mit so einigen Highlights auftrumpfen. Viele denken dabei wahrscheinlich in erster Linie an die Landeshauptstadt Dresden mit ihrem barocken Prunk – Frauenkirche, Zwinger, diverse Palais, zudem die erhabenen Schlösser Pillnitz und Moritzburg vor den Toren der Stadt.

Weniger bekannt ist Sachsen sicherlich für seine Bauten der Moderne, errichtet im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und zugehörig zu verschiedenen Unterströmungen. Genannt seien an dieser Stelle zum Beispiel das Festspielhaus Hellerau in Dresden, die Villa Esche und das Kaufhaus Schocken in Chemnitz, die Versöhnungskirche Gohlis und die Wohnanlage Rundling in Leipzig oder das Haus Rabe in Zwenkau.

Ein weiteres Highlight jener Architekturepoche findet sich im äußersten Osten Sachsens, zwischen Görlitz und Bautzen: die Villa Schminke in Löbau von Architekt Hans Scharoun. Dieses Highlight der organischen Architektur, der Hans Scharoun angehörte, hat die Jahrzehnte mit den unterschiedlichsten Nutzungen auf erstaunliche Weise überdauert. Es ist heute Gegenstand der gleichnamigen Stiftung und eines der architektonisch bedeutendsten Wohnhäuser weltweit. Oft wird es in einem Zug mit der Villa Tugendhat von Ludwig Mies van der Rohe, der Villa Savoye von Le Corbusier und dem Haus Fallingwater von Frank Lloyd Wright genannt.

Wir haben uns aufgemacht, dieses ausgefallene Wohnhaus mit seiner bewegten Geschichte und einzigartigen Formgebung genauer kennenzulernen und in Worten und Bildern festzuhalten.

Die Villa Schminke in Löbau: entworfen von Hans Scharoun, erbaut ab 1930.

In einer recht unscheinbaren Nebenstraße von Löbau nähern wir uns der ehemaligen „Fabrikantenvilla“ von Fritz und Charlotte Schminke. Von Villa aber keine Spur – der ursprüngliche Entwurf einer „altertümlich wirkenden Stadtvilla“, wie es Gästeführerin Michaela Münzberg später formulieren wird, wurde nie realisiert. Für den Sohn des Nudelfabrikanten Wilhelm Schminke und seine Familie sollte es etwas Modernes werden. Am Eingang des Geländes werden wir sogleich mit der Nase darauf gestoßen: Eine Informationstafel gibt zu verstehen, dass wir uns vor einem der berühmtesten Wohnhäuser der Welt befinden, eine weitere Plakette verrät die Mitgliedschaft bei ICONIC HOUSES.

Vor uns tut sich ein nahezu romantisch anmutendes, weitläufiges Gelände auf. Es wachsen knallige Rosen, hinter dem Haus zeichnet sich ein sorgfältig angelegter Garten ab, Bäume umrahmen die Villa Schminke und das gesamte Grundstück. Ein Kleinod mit einem geschichtsträchtigen Gebäude – entworfen ab 1930 von Hans Scharoun, fertiggestellt 1933, nach dem Krieg von der Roten Armee beschlagnahmt, in der DDR als Pionierhaus genutzt, ab 1999 umfassend saniert und für Besucher begehbar, seit 2009 im Eigentum der „Stiftung Haus Schminke“.

Auf dem Nachbargrundstück ragt hinter einer kleinen Mauer und üppigem Baum- und Buschwuchs die ehemalige Nudelfabrik Loeser & Richter mit ihrem Schornstein hervor, deren Leitung der 22-jährige Fritz Schminke nach dem Tod seines Vaters übernahm.

Ein blühendes Umfeld umrahmt die Villa Schminke.

Eine Informationstafel ordnet die Villa unter den „berühmtesten Wohnhäusern der Welt“ ein.

Die Villa gehört zudem zu den ICONICHOUSES.

Entwurf der Stadtvilla, die laut Vater von Fritz Schminke an der Stelle hätte erbaut werden sollen.

Blick auf das Nachbargrundstück mit der ehemaligen Nudelfabrik, deren Leitung der junge Fritz Schminke damals übernahm.

Während der Führung mit Michaela Münzberg von der „Stiftung Haus Schminke“ erfahren wir, dass die Bauherren Fritz und Charlotte Schminke dem modernen Bauen sehr zugewandt waren. Auf Hans Scharoun wurden sie durch eine Bauausstellung aufmerksam – es sollte sich eine lebenslange Freundschaft zwischen ihnen entwickeln. Unter anderem teilten die beiden Männer die Leidenschaft für den Schiffsbau – Hans Scharoun als geborener Bremer, der einen steten Bezug zum Thema hatte – und Fritz Schminke, der mit Übernahme der Teigwarenfabrik auf seinen Lebenstraum das Schiffsbaustudium verzichtete.

Gästeführerin Michaela Münzberg stellt die Familie Schminke anhand eines alten Familienfotos vor.

Die maritime Handschrift Scharouns findet sich an mehreren Stellen am und im Gebäude. Das relingartige Geländer der Terrasse, die Farben Blau und Rot in Verbindung mit Weiß, bunte Bullaugenfenster im Wintergarten – und nicht zuletzt die generelle Formgebung der Villa. Sie erinnere an einen Ozeandampfer und daher trage der Bau den liebevollen Beinamen „Nudeldampfer“ in Anlehnung an die benachbarte Nudelfabrik, wie uns Michaela Münzberg erklärt.

Relingartige Geländer, die Farben Blau, Weiß und Rot und…

… die generelle Formgebung des Gebäudes…

…haben der Villa Schminke den Beinamen „Nudeldampfer“ eingebracht.

Im Inneren des Gebäudes fällt uns als Erstes die Großzügigkeit und Offenheit der Flächen auf. Der offene Eingangsbereich beherbergte zu Wohnzeiten der Schminkes, die insgesamt 12 Jahre in dem für sie entworfenen Haus lebten, das Spielzimmer der vier Kinder der Familie. Wie unsere kundige Gästeführerin erklärt, sei es bemerkenswert, welch „hohe Wertigkeit“ die Kinder damals in der Familie hatten und eben „nicht weggesperrt“ wurden, wie dies durchaus in anderen Fabrikantenfamilien der Fall gewesen war, sondern direkt im Eingangsbereich des Hauses spielen und toben durften. Als vollwertige Familienmitglieder angesehen, hatten sie Spielschränke zur Verfügung, eine mit Tafelfarbe gestrichene Fläche zum Malen, tief gelegene Fenster zum Hinausklettern und sogar eine hauseigene Rutsche – in Form des extra breit angelegten Treppengeländers, ebenfalls im Foyer des Hauses.

Der großzügige Eingangsbereich des Hauses…

… mit Spielbereich für die Kinder der Schminkes und…

…hauseigener Rutsche in Form…

… des Treppengeländers.

Es sei ein äußerst kindergerechtes Haus gewesen, welches Hans Scharoun – obwohl selbst kinderlos – mit erstaunlicher Feinfühligkeit und Liebe zum Detail entworfen hatte. Wir erfahren auch, dass das Haus auf Initiative von Charlotte Schminke zwischenzeitlich als Erholungsheim für nach dem Zweiten Weltkrieg geschädigte Kinder aus Dresden genutzt wurde. 

Vom Eingangsbereich gelangen wir in den offenen, lichtdurchfluteten Wohnbereich. Eine große, helle Couch lädt zum Entspannen ein, bodentiefe Fenster geben den unverbauten Blick in den großen Garten frei, ein schwarzer Flügel schmückt das Ambiente, Pflanzen begrünen den Wintergarten im hinteren Bereich. Wir bekommen versichert, dass schon viele prominente Persönlichkeiten auf dem Sofa, auf welchem auch wir nun Platz nehmen, gesessen haben. Im Rahmen der TV-Reihe „Privatkonzert“ mit Kim Fisher, Stefanie Stumph und Wigald Boning haben schon so einige Promis mit Rang und Namen in Löbau vorbeigeschaut, um ihre Songs vor kleinem Publikum zum Besten zu geben.

Das offene und helle Wohnzimmer mit Flügel und…

… der original nachempfundenen Couch.

Blick in den sorgfältig angelegten Garten.

Das Fensterbrett der Südseite ist zweigeteilt. Das schwarze Fensterbrett heizt sich im Winter bei offenen Vorhängen und Sonneneinstrahlung auf.

Michaela Münzberg macht uns auf eine weitere Besonderheit aufmerksam, die Architekt Hans Scharoun ganz bewusst für die Südseite des Wohnzimmers entworfen hat: das geteilte Fensterbrett mit zwei Ebenen. Eine weiße und eine etwas breitere schwarze Hälfte – darauf fällt im Winter das Sonnenlicht, heizt das Fensterbrett auf – es wird warm. Die sogenannten Rabitzblenden an der Decke, ein weiteres ausgefallenes Detail des Hauses, dienen dem Zweck, im Zusammenspiel mit den Lampen, Lichtkreise bzw. Lichtinseln zu bilden.

Ein Privatkonzert gibt es während unseres Besuchs keines, dafür aber Ruhe und Entspannung – eingebettet in die grüne Umgebung versprüht der „Nudeldampfer“ eine friedliche Atmosphäre. Wir stehen nun im Wintergarten des Hauses, zu allen Jahreszeiten der schönste Raum laut unserer Gästeführerin. Auch Hans Scharoun prägte das Credo, man sei darin der Natur stets ausgesetzt, aber niemals ausgeliefert. Kernstück und Besonderheit hier: die original erhaltene Lichtinstallation an der Decke, die schon vom Eingangsbereich die Blicke auf sich zieht. Die maritimen Züge sind auch hier wieder sichtbar: Die Kreise stellen Bullaugen dar, rote Elemente finden sich an den Sitzstühlen und an den Fenstern. Nachts soll die Atmosphäre noch einmal eine ganz besondere sein.

Der Wintergarten des Hauses mit der original erhaltenen Lichtinstallation.

Durchgehende Fensterfronten lassen einen der Natur „ausgesetzt, aber nicht ausgeliefert“ sein.

Maritime Handschrift in Form der Bullaugen.

Es geht nun in die obere Etage. Auch hier haben wir das gleiche Raumgefühl wie im Erdgeschoss – Helligkeit, Offenheit. Der sogenannte Schrankflur, der sich vor uns auftut, stellt eine räumliche Trennung zwischen dem öffentlichen Bereich und den Rückzugsmöglichkeiten der Familie dar. Die Schränke konnten von der Haushaltshilfe bestückt und beräumt werden, ohne dass die Kinder aufgeweckt wurden. Deren separate Schlafräume können wir nun betreten: Sie sind schlicht, und doch für die damalige Zeit „Luxus pur“, wie Frau Münzberg erklärt, zumal sie einzig und allein zum Schlafen und Ruhen da waren – gespielt wurde im Erdgeschoss.

Der Schrankflur in der oberen Etage des „Nudeldampfers“.

Angrenzend zum Flur: die Kinderschlafzimmer, einzig und allein für Schlaf und Erholung.

Über das Schlafzimmer des Ehepaares Schminke gebe es stets viele Spekulationen, erläutert sie weiter, hat es doch eine einzigartige Konstellation, die man originalgetreu wiederherstellen konnte: zwei versetzt stehende Einzelbetten sind in der Mitte des Raumes platziert. Das Kopfende ist jeweils auf einer Höhe, sodass man sich ohne größeres Verrenken unterhalten kann. Laut Münzberg habe es zudem am Kopfende des Bettes von Charlotte Schminke noch einen deckenhohen Lichtschutz gegeben, zudem konnte ein Vorhang zwischen den Betten zugezogen werden. Allzu neugierige Fragen von Gästen müsse sie mitunter ausbremsen, um die Privatsphäre der Familie zu respektieren.

Die originale Anordnung der Ehebetten: seitlich versetzt mit auf Augenhöhe angeordneten Kopfkissen.

Übernachtungsgäste aber, die die Villa mieten wollen, können in Fritz und Charlotte Schminkes Bett höchstpersönlich beziehungsweise in allen anderen Räumlichkeiten des Hauses nächtigen. Die „Stiftung Haus Schminke“ will das Gebäude für Menschen erlebbar machen und ihnen die Möglichkeit geben, das Lebens- und Wohngefühl der Familie Schminke nachzuempfinden. Anfassen und ausprobieren ist hier ausdrücklich erwünscht – das gilt auch für die Frankfurter Küche, zu der wir gegen Ende der Führung kommen.

Wir treten nun erst einmal auf die weitläufige Terrasse hinaus, auf der Charlotte Schminke der Überlieferung nach am Morgen gern ihre Gymnastikübungen machte. Der Blick fällt in den liebevoll angelegten Garten mit einem großzügigen Teich. Hans Scharoun soll die harmonische Einheit von Gebäude und natürlicher Umgebung sehr wichtig gewesen sein. Zudem ließ er es sich auch hier nicht nehmen, seine maritime Handschrift fortzusetzen. Ein Teil des Terrassengeländers ist wie eine spitz zulaufende Reling gestaltet – und gleicht damit unverkennbar einem Schiffsbug. Wichtig sei dem Architekten zudem stets das Schaffen von Lichtbereichen gewesen. Je nach Tageszeit herrscht an unterschiedlichen Stellen Licht auf der Terrasse. „Wenn die Sonne nicht zu uns kommt, dann gehen wir der Sonne hinterher“, soll er gesagt haben.

Der „Bug“ des Hauses auf der Terrasse, die vom Elternschlafzimmer nach draußen führt.

Die Terrasse bietet einen freien Blick auf den Teich im Garten.

Die „Reling“ vom Erdgeschoss aus betrachtet. Gäste des Hauses sitzen im Außenbereich.

Wir gehen in den großen Gästebereich hinüber, der sich ebenfalls in der oberen Etage des Hauses befindet und von der Wichtigkeit spricht, die den Gästen im Hause Schminke zuteil wurde. Was hier auffällig ist, ist der Ölanstrich im Gästebad und die Wölbung zwischen Badewanne und Wand – bewusst so entworfen, um die Instandhaltung und Reinigung des Hauses für die einzige Haushälterin leicht zu halten. Es wurde ganzheitlich gedacht, um ein lebens- und familienfreundliches Reich zu kreieren. Hans Scharoun selbst habe oft im Gästebett der Schminkes geschlafen und mit der Familie Zeit verbracht.

Für alle Küchen- und Kochfans ein Highlight zum Abschluss der Führung: die Küche nach dem Modell der Frankfurter Küche. Dieser Urtyp der modernen Einbauküche wurde 1926 von Margarete Schütte-Lihotzky, eine der ersten österreichischen Architektinnen, entworfen und später als Modell für die Schminke-Küche verwendet. Gefragt war eine kompakte Küche, mit kurzen Wegen und dennoch allen wichtigen Komponenten. Die Küche der Schminkes sei größer als das Original der Frankfurter Küche, wie Michaela Münzberg erklärt. Das Arbeitsdreieck „Vorratshaltung, Zubereitung und Verarbeitung“ sei jedoch klassisch für diesen Typ. Im Kreuzungspunkt steht ein Tisch mit dunkler Platte. Dieser würde durch seine Farbe Insekten abschrecken und wurde ganz bewusst so gewählt. Wir merken: Nichts ist hier dem Zufall überlassen.

Die Küche der Schminkes nach dem Modell der Frankfurter Küche von Margarete Schütte-Lihotzky.

Kompaktheit und kurze Wege paaren sich mit stilvollem Design.

Der Vorratsbereich mit de originalen Schütten.

Einige Schubfächer und Schranktüren haben anstelle von Griffen Löcher zum Öffnen. Der Gedanke dahinter: Die Frauen sollten mit ihren Schürzenbändern nicht an den Knäufen hängenbleiben. Gewürz- und Nahrungsmittelbehälter können bequem unter den Arm geklemmt und anschließend mit einer Hand bzw. nur einem Finger geöffnet werden. Wir sind beeindruckt von der Verbindung von Design und Funktionalität der Küche, die nebenan noch über einen separaten Anrichtebereich verfügt, der unter anderem Essensdünste filtern soll und über ein Gitterrost zum Warmhalten der Speisen verfügt.

Was wir während unseres Besuches nicht erleben können, ist die Beleuchtung des Hauses bei Nacht – laut Michaela Münzberg ein Erlebnis für sich, wie wir auf einem von ihr gezeigten Foto nur erahnen können. Wir müssen also noch einmal zurückkommen – ins verschlafene Löbau im östlichsten Sachsen, mit einer außergewöhnlich lebendigen, frischen und erlebbaren Architekturikone von Weltrang.

Die Villa Schminke bei Nacht – ein Highlight für sich.

Das Gebäude vom Garten aus betrachtet.

Ansicht auf die Terrasse des Hauses mit dem Schornstein der ehemaligen Nudelfabrik im Hintergrund.


Text: Marit Albrecht

Fotos: © Bricks Don’t Lie, Marit Albrecht