12-2022
12-2022

Bauen aus Schutt und Asche? — Wie eine Naturkatastrophe den Unternehmer Gerhard Dust auf die Kreislaufwirtschaft brachte

Als sich der Unternehmer Gerhard Dust 2009 im Alter von 57 Jahren in Florida mit seiner Familie zur Ruhe setzen wollte, ahnte er nicht, dass eine Naturkatastrophe kurze Zeit später sein Leben radikal auf den Kopf stellen sollte.

Das verheerende Erdbeben in Haiti im Januar 2010 kostete hunderttausende Menschenleben, ebenso viele Wohnungen und Gebäude wurden zerstört. Laut lpb (Landeszentrale für politische Bildung) wurden in manchen Regionen gar bis zu 90 Prozent der Häuser zerstört. Das Land lag in Schutt und Asche. 

Erdbeben in Haiti 

Dr. Gerhard Dust, selbst aus ärmlichen Verhältnissen und später erfolgreich als Unternehmer tätig, ließ sich trotz vieler Pläne nach dem Berufsausstieg in diesem Schicksalsjahr nicht zweimal bitten. Spontan unterstützte er eine Hilfsaktion der US-amerikanischen Schule seiner Tochter und kam so unmittelbar in Berührung mit dem unendlichen Leid in Haiti. Was er vorfand, berührte ihn zutiefst, wie er uns im Interview erzählt. „Mir ist erst einmal klargeworden, wie privilegiert mein Leben abgelaufen ist“, verrät er. Die Erinnerung an seine Vorfahren, die von Kriegen und Katastrophen gleichsam betroffen gewesen waren, ließ ihn zu dem Entschluss kommen: „Ich muss etwas tun.“

ICH MUSS ETWAS TUN.

Dr. Gerhard Dust, Gründer & CEO Polycare

Geld spenden stellte sich für ihn schnell als eine viel zu punktuelle und kurz gedachte Lösung heraus. Jegliches Material für den Wiederaufbau und auch die Bauarbeiter seien aus dem Ausland importiert worden, während die Traumatisierten „an den Spielfeldrand gestellt wurden“ und unbeteiligt in Zelten warten mussten, so Dust. Seine Mutter sei nach dem Zweiten Weltkrieg im zerstörten Deutschland selbst „Trümmerfrau“ gewesen. Ohne den eigenen Wiederaufbau – mit den eigenen Händen und unter großen Anstrengungen – hätte sie diese „Urkatastrophe“ nicht bewältigen können, erklärt Dust. 

Polycare-Kindergarten in Omuthiya, Namibia.

Das Gebäude stand innerhalb von wenigen Wochen.

1.474 Polymersteine wurden dafür verbaut.

Die Polymerbeton-Steine eignen sich auch für einen Bau in die Höhe. Hier: der Polycare-Tower in Windhoek.

Hilfe zur Selbsthilfe — lokale Arbeitskraft, lokale Materialien

Anstatt des schnellen Geldes wollte Dust vielmehr Hilfe zur Selbsthilfe geben und die Menschen befähigen, aus eigener Kraft und mit lokalen Materialien ihr Umfeld und damit ihr eigenes Leben wiederaufzubauen. „Wenn man nur versorgt wird, dann bleibt das die schrecklichste Niederlage, die man erlitten hat. Aber wenn man aufsteht und kämpft, ist man stolzer und geht positiver in den Rest des Lebens.“

WENN MAN AUFSTEHT UND KÄMPFT IST MAN STOLZER UND GEHT POSITIVER IN DEN REST DES LEBENS.

Dr. Gerhard Dust, Gründer & CEO Polycare

Gemeinsam mit seinem alten Bekannten, dem Ingenieur Gunther Plötner machte sich Gerhard Dust ans Werk. Plötner hatte bereits Jahre zuvor einen Weg gefunden, aus Wüstensand Beton herzustellen. Die Fragestellung war nun: „Kann man auch aus Bauschutt Beton herstellen? Und ist dies in Form von Legosteinen für Erwachsene möglich?“ Die Antwort auf beide Fragen lautete: Ja. Womit der Gründung von Polycare – was sich aus den Begriffen Polymerbeton und dem englischen care für Hilfe, Fürsorge zusammensetzt – nichts mehr im Wege stand. 

Tüfteln an der richtigen Technologie

Bereits Ende der 70er Jahre hatte Plötner im Auftrag der DDR an einer Lösung zum dauerhaften Binden von Flugasche und den darin enthaltenen Giftstoffen gearbeitet. Die Bindung in normalem Beton funktionierte nicht, auf Basis eines Polymerbetons schon. Bei dieser Art des Betons kommt Polyesterharz als Bindemittel zum Einsatz – es entstehen lange Molekülketten, „die die Flugascheartikel dauerhaft einschließen“, wie Gerhard Dust erklärt. Jegliche rieselfähige Materialien wie eben Flugasche, Wüstensand, aber auch gemahlener Bauschutt würden sich eignen, um daraus in Verbindung mit Polyesterharz Polymerbeton herzustellen. Beim Zementbeton erfolge eine „Verhakung der Partikel“ bei jedoch relativ niedriger Bindefestigkeit. Wüstensand würde sich aufgrund der „runden Struktur“ gar nicht verhaken und ist somit für die herkömmliche Betonherstellung unbrauchbar.

Wüstensand ist normalerweise zu fein für die Betonherstellung.

Polycare hat eine Methode entwickelt, womit auch Bauschutt weiterverarbeitet werden kann.

WIR HABEN HEUTE SCHON MEHR KUPFER IN UNSEREN STÄDTEN ALS IN DEN MINEN NOCH LIEGEN.

Dr. Gerhard Dust, Gründer & CEO Polycare

Anders für die Herstellung von Polymerbeton, in dessen Molekülketten auch die Körner von Wüstensand „ganz fest eingebunden“ werden. Ein Vorgang, der laut Dust irreversibel ist, mit somit dauerhaft eingebundenen Bestandteilen und einem festen Baustoff. Mit Hilfe einer sehr einfach zu bedienenden Maschine, die Verhältnis und Gewicht der Materialien genau bemisst, könne dann aus den verschiedenen Komponenten der Polymerbeton gemischt werden. Solange die Stoffe „rieselfähig und trocken sind, funktioniert es“, so wie eben auch mit gemahlenem Bauschutt. Das Verhältnis: etwa zehn Prozent Polyesterharz und 90 Prozent Füllmaterial. Die Härtezeit für die Mischung betrage 20 Minuten, nach denen der Stein dann wieder aus der Form genommen werden könne und diese für eine Neubefüllung bereitsteht. 

Produktion des Polymerbetons. Eine Maschine mischt die unterschiedlichen Komponenten und befüllt im Anschluss die Form. Bei der Herstellung wird kein Zement und kein Wasser benötigt.

Ein fertiger Polymerbetonstein. Gut sichtbar sind die Steckelemente, die genau ineinanderpassen.

Produktionsstätte in Namibia.

Gründer Gerhard Dust ist stolz, dass hier rein lokal produziert wird.

Bei der Produktion werden 60 Prozent der CO2-Emissionen gegenüber „normalem“ Beton eingespart.

Nach nur 20 Minuten ist der Stoff ausgehärtet und kann aus der Form genommen werden.

Die Steine können in einem standardisierten oder einem kundenspezifischen Design hergestellt werden.

Erster Rückschlag

Was einfach klingt, habe in der Entwicklung doch sehr lange gedauert, wie der heute 70-jährige Gründer von Polycare erklärt. Nach zwei Jahren war nicht nur die Rezeptur des Baustoffs perfektioniert, sondern wurde mit dem Bau eines ersten Musterhaus aus steckbaren Bauelementen auch die technische Machbarkeit des Konzeptes nachgewiesen. Gefolgt sei daraufhin aber direkt die „erste große Enttäuschung“. Mit dem Ziel, die Menschheit zu einem schnellen Bauen zu befähigen, richtete sich Gerhard Dust an die UNO, um dieser das „Lego-Haus“ und alle damit verbundenen Patente zu schenken. Der Gedanke „Hilfe zur Selbsthilfe“ sei immer der Grundgedanke dahinter gewesen. Die UNO jedoch lehnte dankend ab. „Wir haben gemerkt, wie naiv wir waren.“ Alle hätten die Idee gut gefunden, doch die Vereinten Nationen gaben zu verstehen, dass selbst nach Katastrophen der Bau dauerhafter Gebäude nicht zur Aufgabe der UN zählt.

Weiterentwicklung und Businesskonzept

Also entwickelte das Team um Gerhard Dust weiter und stellte ein Businesskonzept auf die Beine, welches die Zusammenarbeit mit Partnern in der ganzen Welt vorsieht. „Wir suchen Partner in allen Ländern der Welt, die mit dieser Technologie bauen wollen und Menschen helfen wollen.“ Starker Fokus liege dabei momentan auf Afrika; mehrere Zulassungen gebe es schon und in Namibia wird bereits seit 2019 produziert. Polycare stelle dafür das Know-how, die Maschinen, Materialien und die Software für das Bausystem. Im Gegenzug erhalte es eine Lizenzgebühr, mit der fortlaufend weitergeforscht und -entwickelt werden könne. 

WIR HABEN GEMERKT, WIE NAIV WIR WAREN.

Dr. Gerhard Dust, Gründer & CEO Polycare

Zum Beispiel, den ganzen Prozess „noch grüner“ zu machen, so Dust. Die aktuelle Entwicklung gehe ganz weg von organischen, erdölbasierten Polymeren hin zu anorganischen. Diese Rezeptur ähnelt sehr stark dem alten römischen Beton aus Aschen und Schlacken. Denn dass der Polyesterharz, wenngleich er mit circa zehn Prozent nur einen geringen Anteil des fertigen „Legosteins“ ausmacht, ein Kunststoff und somit letztendlich erdölbasiert ist, lässt sich nicht von der Hand weisen. Man forsche nun auch stärker im Bereich Geopolymer, bei dem man komplett mit rein natürlichen Bindemitteln auskäme. 

Polycare-Workspace-Haus im thüringischen Gehlberg. Auch dieses Haus ist in Steckbauweise errichtet und komplett rückbaubar.

Vorreiter der Kreislaufwirtschaft

Im gesamten Prozess habe schon frühzeitig die Erkenntnis eingesetzt, etwas viel Größeres entwickelt zu haben, als gedacht. „Heute sind wir weit darüber hinaus, nur ein Unternehmen zu sein, dass Hilfe zur Selbsthilfe anbietet“, berichtet der Gründer von Polycare, das derzeit circa 30 Mitarbeiter in Deutschland zählt. „Wir sind heute tatsächlich Vorreiter im Bereich der Kreislaufwirtschaft. Die Häuser, die wir mit diesen Legosteinen bauen, können immer wieder auseinandergenommen und wieder neu aufgebaut werden.“

WIR BRAUCHEN LÖSUNGEN IM RAHMEN DER KREISLAUFWIRTSCHAFT, DAMIT WIR IMMER WIEDER DAS MATERIAL NUTZEN, DAS WIR SCHON HABEN.

Dr. Gerhard Dust, Gründer & CEO Polycare
Unternehmer und Polycare-Gründer Dr. Gerhard Dust.

Die Steine werden nicht verklebt, sondern auf lange Gewindeschrauben aus rostfreiem Stahl „aufgesteckt“ und anschließend festgeschraubt, was auch ungeübte Arbeiter schnell lernen können. Vier- bis fünfmal so haltbar wie normaler Beton gilt Polymerbeton als extrem langlebig und nahezu „zerstörungsfrei“, erklärt Dust. Für das Zulassungsverfahren wurden die Steine auf ihre Haltbarkeit getestet, die auf mindestens 40 Jahre gemessen wurde. Dust geht davon aus, sie könnten mehrere hundert Jahre überdauern. Weiterer Vorteil: das niedrige Gewicht und der geringe Ressourcenverbrauch. Ein solcher Stein wiege nur ein Viertel eines herkömmlichen Steines, das Innenleben ist hohl oder mit einer Dämmung gefüllt, die zu einem großen Teil aus recycelten Materialien besteht. Auch das Polyesterharz bestehe bereits zu 38 Prozent aus recycelten PET-Flaschen. Wie bei einem Legobausatz würde zudem nur die exakt benötigte Menge an Steinen auf die Baustelle geliefert werden. Es entstehe keinerlei Baumüll und auch die Transportkosten reduzierten sich. 

Alarmsignal und Afrikaerfolg

850 Millionen Tonnen Bauschutt pro Jahr in Europa seien für den Vorreiter Dust absolut alarmierend gewesen, als er sich mit den Größenordnungen genauer auseinandergesetzt hatte. „850 Millionen Tonnen, die wir irgendwann einmal der Erde entnommen haben und die wir jetzt als Bauschutt entsorgen.“ Der Gedanke einer vollständigen Recyclebarkeit von Gebäuden und einer Transformation des gesamten Bauwesens sei Dust und seinen Mitarbeitern immer bewusster geworden. Ihr erstes Musterhaus wurde innerhalb von zwei Tagen in Namibia im Rahmen einer Konferenz aufgebaut, anschließend von den Menschen vor Ort abgebaut und in einem benachbarten Slum eigenhändig wieder aufgebaut. Auch andere Gebäude werden temporär errichtet, um sie wenige Jahre später in ganz anderer Form und für eine andere Nutzung wieder aufzubauen. So hat Polycare nach der Flutkatastrophe im Sommer 2021 im Ahrtal für die Opfer, die vorübergehend in einer temporären Tinyhouse-Siedlung leben, ein Gemeinschaftsgebäude errichtet. Dieses Gebäude wird in ein paar Jahren an einem anderen Ort als Kindergarten neu Gestalt annehmen.

Polycares Philosophie: schnell, einfach & nachhaltig bauen, mit dem was lokal verfügbar ist.

Hausbau in Namibia. Gut deutlich wird: die einfache Steckbauweise mit den Polymerbetonsteinen.

Polycare-Entwickler Benedikt Musiol beim Training mit lokalen Mitarbeitern in Namibia.

Ein afrikanischer Arbeiter beim Bau mit den „Legosteinen“. Die Polymerbetonsteine von Polycare wiegen laut Gründer Dust nur ein Viertel von herkömmlichen Betonsteinen.

Die Steine werden nicht verklebt, sondern auf Gewindeschrauben aus rostfreiem Stahl aufgesteckt und festgeschraubt.

Neben Bildungszentren baut Polycare beispielsweise auch Wohngebäude, Gemeinschaftszentren, Kirchen und Sanitäreinrichtungen.

Vollständige Recyclebarkeit

Alles müsse bewegt werden können. Wände, aber auch Dächer, Fundamente, sogar ganze Badezimmer müssten abgebaut werden können. Dafür habe man beispielsweise einen vorfabrizierten Typus Badezimmer entwickelt, den man herausnehmen und wieder neu verwenden könne. Gleiches gilt für die Fundamente. „Wir brauchen Lösungen im Rahmen der Kreislaufwirtschaft, damit wir immer wieder das Material nutzen, das wir schon haben, und nicht neues der Erde entnehmen. Wir haben heute schon mehr Kupfer in den Städten, als in den Minen noch liegen“, prangert Dust an. 

WIR MÜSSEN WEG VON DEN WELTWEITEN LIEFERKETTEN.

Dr. Gerhard Dust, Gründer & CEO Polycare

Man müsse zudem wegkommen von den weltweiten Lieferketten hin zu einem „lokalen impact“. Namibia und die rein lokale Produktion der Polycare-Steine vor Ort sei ein gutes Beispiel dafür. Gleiches gilt für Ägypten, wo Polycare eine Fabrik plant, die mit ägyptischen Arbeitern aus ägyptischen Materialien Baustoffe herstellt.

Hindernisse und Hoffnung auf die junge Generation

Die Zulassung in Deutschland ließ länger auf sich warten: nach acht Jahren wurde im vergangenen Jahr grünes Licht für den Polycare-Baustoff gegeben. Man wolle das Produkt auch hierzulande ausweiten und Leuchtturmprojekte wie das im Ahrtal wiederholen. Was denn eine flächendeckende Bauwende und einen Durchbruch von Technologien dieser Art derzeit noch verhindere, wollen wir zum Abschluss des Gesprächs vom Polycare-Gründer wissen. „Die Regularien“, bekommen wir zu hören. Und natürlich wolle man die Milliardenwerke der Stahl- und Zementindustrie nicht einfach so abschreiben. Die Dringlichkeit und auch der Fortschritt seien aber nicht mehr aus der Welt wegzudiskutieren, ist er sich sicher. 

UNSERE WEGWERFGESELLSCHAFT IST AM ENDE.

Dr. Gerhard Dust, Gründer & CEO Polycare

„Wir haben viel zu lange Zeit damit vertrödelt, immer wieder neue Sachen zu produzieren, die wir am Ende wegwerfen. Wir müssen wirklich ganz ernsthaft darüber nachdenken, alles, was wir haben, zu benutzen. Unsere Wegwerfgesellschaft ist am Ende“, sagt Gerhard Dust reumütig, der sich zum Teil mit schuldig fühlt für die Bequemlichkeit und Gedankenlosigkeit, mit der man viel zu lange so gehandelt hat, als habe man noch einen „Reserveplaneten“ im Kofferraum. „Bei mir in der Firma, das sind alles junge Leute, die genau das wissen.“

Polycare-Gartenhaus „Boisbuchet“ auf dem Gelände von „Domaine de Boisbuchet“, einem internationalen Forschungszentrum für Architektur & Design in Frankreich.

Text: Marit Albrecht

Bilder: © Polycare