Was heute in den meisten Fällen als anspruchslose Wohnlösung für sozial Schwache und Menschen mit Migrationshintergrund abgewertet wird, galt Mitte der 70er Jahre vor allem in Ostdeutschland noch als modern und familienfreundlich. Plattenbauten sollten die damalige Wohnungsnot lösen und seinen zukünftigen Bewohnern mehr Wohnkomfort bieten. Die sozialistische Führungsriege plante dadurch bis 1990 die Bereitstellung von bis zu drei Millionen zusätzlichen Wohnungen. Die Neubauten (später zynisch „Arbeiterschließfächer“ genannt) verfügten im Gegenzug zu vielen Altbauten über innenliegende Bäder und Toiletten, zweckmäßige Grundrisse und Gaszentralheizung. Lästiges Kohleschaufeln und Baden im Waschzuber gehörten somit der Vergangenheit an. Um die Familienfreundlichkeit weiter zu erhöhen, wurden in unmittelbare Nähe der Neubausiedlungen Kaufhallen, Kindergärten und Schulen errichtet und wer noch einige Jahre auf seinen Trabant warten musste, konnte sich zusätzlich über die gute Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel freuen. Dafür nahm man einheitliche Raumaufteilungen und eine hohe Dichte an Mitmenschen in den Anlagen in Kauf. Die uniformierte, schmucklose Gleichheit der Wohnungen entsprach der Ideologie des Kommunismus, welche vermeiden wollte, dass sich Menschen durch ihre Wohnsituation definieren konnten und dadurch Statussymbole entstanden. Und in der Tat war es nicht unüblich, dass ein Professor der Physik Tür an Tür mit einem Müllkutscher lebte.
Der Plattenbau als Waffe gegen drohende Wohnungsnot im Osten
Plattenbauten beziehungsweise Wohn- und Geschäftshäuser in „Großtafelbauweise“ wie es korrekt heißt, waren jedoch keine Erfindung der sozialistischen Staaten, sondern wurden bereits 1910 im New Yorker Stadtteil Queens errichtet. Der Grundgedanke dieser Bauweise war die industrielle Vorfertigung von genormten Wand- und Deckenplatten aus Beton, die später erst an der Baustelle zusammengesetzt wurden. Durch die Vorproduktion in überdachten Hallen, waren die Baumaßnahmen weitestgehend unabhängig von Wind und Wetter und durch den Einsatz von Kränen konnten Großprojekte deutlich schneller fertig gestellt werden. Sowohl in West- als auch Ostdeutschland wurden in den Nachkriegsjahren, Anfang der 1950er Jahre, erste Wohnprojekte dieser Bauweise errichtet. Besonders in der ehemaligen DDR fand die industrielle Bauweise besonderen Anklang und es entstanden ganze Regionen, die fast vollständig von Plattenbauen dominiert wurden. So zum Beispiel die sächsische Stadt Hoyerswerda, die durch die neuen Plattenbauten ihre Einwohnerzahl von 7.000 auf 70.000 verzehnfachen konnte. Das Wohnungsbauprogramm von 1972, welches wie erwähnt bis zu drei Millionen zusätzliche Wohnungen schaffen wollte, gab der Neubauentwicklung einen weiteren Schub.
Wie in der DDR üblich, bekamen die Haustypen Bezeichnungen, über die jeder Werbetexter nur mit dem Kopf schütteln würde: Q3A (Querwandtyp Nr. 3 Variante A), P2 (Plattenbautyp 2), WHH GT 18 (Wohnhochhaus in Großtafelbauweise mit 18 Geschossen) oder WBS70 (Wohnungsbauserie 70). Letzterer Typ, welcher als Variante mit 5 und 11 Geschossen gebaute wurde, ist auch heute noch der am meisten vertretene Plattenbau in den neuen Bundesländern. Dies verdankt er (trotz Standardisierung) seiner flexiblen Bauweise. Bei Nichtwohngebäuden sind die Schulgebäude „Typ Dresden Atrium“ und sein Nachfolger „Typ Dresden R 81“ in manchen Städten auch heute noch der zahlmäßig dominierende Schulbautyp und dies nicht ohne Grund. Durch die Bauweise, die von oben betrachtet wie eine flach gedrückte römische Drei aussieht, ergeben sich zwei Innenhöfe, wodurch jeder Schulraum über zwei Fensterfronten verfügt. Weiterhin praktisch ist die Anordnung von Küche und Speisesälen im Kellergeschoss.
Städtebauliche Herausforderungen und Anreize für Investoren
Sexy waren Plattenbauten in ihrer tristen Eintönigkeit noch nie und sind es auch heute nicht. Trotzdem prägen sie auch weiterhin das Stadtbild, sowohl in den alten- als auch neuen Bundesländern. Dies haben sie ihrer langlebigen Bausubstanz zu verdanken und dem Umstand, dass sie eine sehr hohe Dichte an Wohnraum pro Quadratmeter Grundfläche bieten. In weitestgehend unsanierter Form bieten sie sehr preiswerten Wohnraum, was naturgemäß einkommensschwache Bevölkerungsschichten anzieht, aber auch Menschen, bei denen andere Gründe vorliegen, warum sie die Anonymität der ehemaligen Neubauprojekte suchen. Dies stellt für die Kommunen eine große gesellschaftspolitische und städtebauliche Herausforderung dar. Entweder bekommen gewisse Areale einen „Ghetto-Charakter“, der mit einer dauerhaft hohen Kriminalitätsrate einhergeht oder jene Plattenbaugebiete (und deren Nachbarschaft) erfahren eine Abwanderung und somit kaum zu bekämpfende hohe Leerstandsquoten. Wohnungsgenossenschaften und Städteplaner haben in den letzten Jahren sehr viel Energie und Geld in umfangreiche Modernisierungsmaßnahmen und die umliegende Infrastruktur investiert. Ein Beispiel ist die Eisenbahner Wohnungsbaugenossenschaft Dresden (EWG), welche im Stadtteil Dresden-Gorbitz rund 6.000 Wohnungen bewirtschaftet. 2002 hatte die Genossenschaft durch Überalterung und Abwanderung bereits ein Viertel ihrer Mieter in Gorbitz verloren. Der Stadtteil mit dem größten Anteil an Plattenbauten drohte dauerhaft als asozial stigmatisiert zu werden. Zum Glück wurde Gorbitz in das Städtebauförderprogramm „Soziale Stadt“ aufgenommen und 2008 startete ein großangelegtes Sanierungsprogramm, welches 2021 fertig gestellt wurde. Die EWG investierte dazu rund 28 Millionen Euro. Herausgekommen sind familien- und seniorengerechte Wohnungen mit modernen Grundrissen und einer zeitgemäßen Ausstattung. Auch an der Peripherie wurde gearbeitet und Ende 2022 für die Jugend ein 3.300 m² großer Street-Sport- und Begegnungspark eröffnet. All dies folgte einem Gesamtkonzept. „Der Stadtteil Gorbitz befindet sich in einer Transformation und zieht immer mehr Familien an“, erklärte Vorstand Antje Neelmeijer dazu. „Nachdem unsere Genossenschaft in den letzten Jahren sehr viel für die Bedürfnisse der Senioren getan hat, wollten wir mit dem Streetsport-Park einen Ort für junge Menschen schaffen, wo sie sich gerne treffen, wo sie aktiv sein können. Einen Ort, der auch Leute aus anderen Stadtteilen neugierig macht.“
Auch kleinere bis mittelgroße Investoren haben mittlerweile Gefallen an „der Platte“ gefunden, da die Bauweise eine gute Planbarkeit von Änderungsmaßnahmen erlaubt und viel Aufwertungspotenzial bietet. Dazu gehören vor allem die Zusammenlegung und Umwandlung von kleinen 2-Zimmer-Wohnungen zu modernen 4- und 5-Zimmer-Wohnungen mit 2 Bädern und attraktiven Grundrissen. Um dem monotonen Auftritt der Plattenbauten entgegenzuwirken, können Fassaden farbenfroh gestaltet und Außenanlagen aufgewertet werden (mehr Grün, gut ausgestattete Spielplätze). Auch die Vergrößerung der Balkone sorgt für einen leichten Zugewinn an Wohnfläche, eine bessere Vermietbarkeit und einen höheren Mietzins. Letzter führt dazu, dass übergemäß modernisierte Anlagen nicht mehr zum preiswerten Wohnraum zu zählen sind. Dies schließt gewisse Einkommensschichten aus, was von Seiten der Bauherren aber durchaus gewollt ist. Innovative Projektentwickler sind jedoch schon einige Schritte weiter gegangen und haben den Mut aufgebracht, ganze Etagen und Blöcke für mehr Freiraum und eine luftigere Bauweise abzureißen und die obersten Geschosse mit Dachterrassen massiv aufzuwerten. Dies lohnt sich jedoch nur in Großstädten, wo zu erwarten ist, dass die Entwicklung des Mietzinses und somit der zu erwartende Wert der Immobilie den Wegfall an Wohnfläche rechtfertigen.
Rückbau mit Resteverwertung
Trotz aller Möglichkeiten, die Sanierung und Modernisierung bieten, passen Plattenbauten – auch in aufgehübschter Form – in manchen Stadtgebieten und Ortschaften einfach nicht mehr ins Stadtbild oder müssen aufgrund der existierenden oder erwarteten Bevölkerungsstruktur anderen Haustypen weichen. Also Abriss und Neubau. Aber warum müssen genormte und noch tragfähige Bauteile einfach entsorgt werden? Gibt es keine Möglichkeit, sie wieder dem Kreislauf zuzuführen? Mit diesem Gedanken beschäftigte sich die Cottbuser Bauingenieurin und spätere Professorin Angelika Mettke, die sich daraufhin fast schon besessen dem Thema Betonrecyclings widmete. Für ihre Forschungen erhielt sie 2016 den Deutschen Umweltpreis. Auch wenn sie mit ihrer Arbeit bereits sehr viel bewegen konnte, ist das Thema Baustoff-Recycling in der Praxis oftmals ein Kampf gegen Windmühlen. Vor allem, wenn vermeintlich umweltfreundliche Behörden in Ausschreibungen den Verbau von „Naturmaterialien“ fordern, was aber gleichzeitig Recycling-Baustoffe ausschließt. Dies ist natürlich unverständlich, wenn man sich ansieht, was bei Wiederverwendung an Energie und Ressourcen eingespart werden kann. Gegen diesen Widerspruch und die teilweise ablehnende Haltung gegenüber „gebrauchten“ Wand- und Deckenelementen wehrt sich Angelika Mettke seit Jahren. Weiterhin engagiert setzt sie sich für ein Umdenken und die Errichtung von Zwischenlagern ein, an denen entnommene Bauteile bis zu ihrer Weiterverwendung lagern müssen und somit nicht zwingend vom ehemaligen Eigentümer verbaut werden müssen. Aus diesem Bestand könnten dann auch Bauträger schöpfen, die nicht im Bereich der Sanierung tätig sind und somit deutlich günstiger und ökologisch nachhaltiger bauen.