05-2022
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Die Hagia Sophia — inoffizielles Weltwunder und Meisterwerk antiker Architektur

In der Antike galt die Sieben als vollkommene Zahl und in ihrer Symbolik als Obergrenze für die Anzahl der Weltwunder (die Pyramiden von Gizeh, die Hängenden Gärten der Semiramis, der Koloss von Rhodos, das Grab des Königs Mausolos, der Leuchtturm von Pharos, der Tempel der Artemis und die Zeus-Statue in Olympia). Von ihnen haben nur die Pyramiden den Lauf der Zeit überdauert. Hätte man damals die Zahl Acht als vollkommene Zahl angesehen, dann wäre höchstwahrscheinlich die Hagia Sophia als achtes Weltwunder in diese Liste aufgenommen wurden. Und der jetzigen Menschheit wären zumindest noch zwei monumentale Weltwunder erhalten geblieben. Rein von den Zahlen her gibt es aus kirchlicher Sicht deutlich längere Bauwerke (Petersdom, Vatikanstadt), deutlich höhere Kirchtürme (Ulmer Münster, Ulm) und auch Bauten mit einer sehr viel größeren Grundfläche (Basilika Notre-Dame-de-la-Paix, Elfenbeinküste). Aber Zahlen sind ja bekanntlich Schall und Rauch, auch wenn die Hagia Sophia zumindest in Bezug auf die lichte Weite auf dem ersten Platz rangiert. Aber was macht die Hagia Sophia – was auf Griechisch so viel wie „Heilige Weisheit“ bedeutet – zu einem Bauwerk, welches überhaupt als Kandidat für ein „Weltwunder“ gehandelt werden dürfte?

Die Hagia Sophia in Istanbul. Ein Meisterwerk antiker Architektur. Bild: © Mark König, Unsplash

Die Vorgeschichte

Obwohl der offizielle Baubeginn der Hagia Sophia auf 532 nach Christus datiert wird, wurde 326 (ebenfalls nach Christus) unter Konstantin dem Großen bereits ein Vorgängerbau mit dem Namen „Magale Ecclesia“ errichtet. Dieser wurde im Jahre 360 fertiggestellt und fiel rund ein halbes Jahrhundert später den Flammen zum Opfer. Kurz darauf, im Jahre 414, wurde an selbiger Stelle erneut eine Kirche errichtet, die als Hauptkirche Konstantinopels (später Istanbul) galt. Aber auch diese ging 532 nach einem gewalttätigen Aufstand in Rauch und Flammen auf. Im selben Jahr begannen jedoch schon die Planungen und der Bau eines der monumentalsten Gebäude der Spätantike, welches nicht nur für das Byzantinische Reich, sondern auch für das Christentum und später den Islam eine tragende Rolle spielen sollte.

Ein Bau in Rekordzeit

Federführend für die Planung und Umsetzung des Baus der Hagia Sophia waren die Baumeister Anthemios von Tralles und Isidoros von Milet, in diesem Fall Architekten, Mathematiker & Ingenieure in Personalunion. Im Auftrag des Kaisers Justinian, der den Baufortschritt fast täglich verfolgte, verwirklichten sie ein Projekt, welches nach nur fünf Jahren seine Fertigstellung feierte. Dies ist nicht nur nach damaligen, sondern auch nach heutigen Maßstäben eine unglaubliche Meisterleistung. Es ist kaum vorstellbar, wie jene Baumeister ohne Computer und technische Hilfsmittel die damaligen Grenzen der Statik und Logistik überschritten und in Rekordzeit dieses unvergleichliche Bauwerk errichteten. Da sie zu einem großen Teil nicht nur als Gotteshaus, sondern vor allem als Palast des Kaiser dienen sollte, ist die Hagia Sophia in vielen Bereichen deutlich prunkreicher als vergleichbare Bauten und vereint Einflüsse der byzantinischen, frühchristlichen, griechischen, mesopotamischen, muslimischen, persischen, römischen und syrischen Architektur. Zehntausende Arbeiter erschufen vor fast 1.500 Jahren ein Bauwerk, bei dem vor allem die Kuppelkonstruktion ein Wunder an sich ist. Die gewaltige Pendentifkuppel ruht auf vier Pfeilern und hat einen Durchmesser von 32 Metern und ist gigantische 55 Meter hoch. Mit 40 umlaufenden Fenstern ist sie tragendes Element der Basilika und trägt maßgeblich zu der fast unendlichen Weite des Raumes bei, der sich einem auftut, wenn man ihn über die Vorhalle das Kirchenschiffs betritt.

Die gewaltige Pendentifkuppel der „Heiligen Weisheit“. Bild: Shutterstock

Allerdings hatte die gewagte Kuppelkonstruktion auch ihre Schwächen und wurde in den Jahren 558, 989 und 1346 durch Erdbeben (teilweise) zerstört und im Rahmen des Wiederaufbaus bautechnisch verbessert. Neben der Kuppel und den räumlichen Dimensionen sind es auch die zahlreichen Mosaik- und Marmorverzierungen, von denen einige immer noch im Original vorhanden sind, die der Hagia Sophia Einzigartigkeit verleihen.

Von der Kirche zur Moschee

Erbaut wurde die Hagia Sophia als katholische Kirche (damals gab es die Trennung der Kirchen noch nicht). Als es dem osmanischen Sultan Mehmed II. im Jahr 1453 gelang, Konstantinopel einzunehmen, wurde die Stadt zum heutigen Istanbul und die Hagia Sophia zur Moschee. Christliche Verzierungen und Symboliken verschwanden und später wurden auch die vier islamischen Minarette dem Bau hinzugefügt. Erst der in der Türkei immer noch wie ein Gott verehrte Mustafa Kemal Atatürk veranlasste 1934, die Moschee in ein Museum umzuwandeln, was weltweit sehr positiv aufgenommen wurde. Erst unter der Ägide des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wurde die Hagia Sophia auf Drängen islamischer Verbände 2020 wieder zur Moschee. Dies sorgte in religiösen, vor allem christlichen Kreisen, für Bestürzung.

Innenraum der Hagia Sophia mit den charakteristischen Kronleuchtern und arabischen Schriftzeichen. Bild: Shutterstock

Die Hagia Sophia heute

Die Hagia Sophia als Teil des UNESCO-Weltkulturerbes ist weiterhin ein beliebter Touristenmagnet und auch als Moschee für Nichtgläubige bzw. Vertreter anderer Religionen zugänglich. Der Besuch unterliegt jedoch gewissen Regeln. So dürfen Frauen nur mit Kopftuch das Areal betreten. Nicht-Musliminnen können im Eingangsbereich eine entsprechende Kopfbekleidung erwerben. Wie in einer Moschee üblich, müssen beim Betreten des Hauptschiffes die Schuhe ausgezogen werden. Dies hat jedoch auch Vorteile. Da man nun „schuhfrei“ auf einem dicken Teppichboden läuft, ist die Geräuschkulisse weniger kalt und gibt den Sinnen mehr Raum, die Gesamtatmosphäre auf sich wirken zu lassen. Kundige Touristenführer empfehlen jedoch, die Schuhe nicht in die Regale zu stellen, sondern in einem Beutel bei sich zu tragen. Sonst kann es passieren, dass sich jemand anders über die Schuhe freut, während man selber auf Socken den Stadtbummel durch Istanbul fortsetzen kann. Manchmal machen Langfinger eben auch vor Gotteshäusern nicht halt. 

Die Hagia Sophia mit ihrer Umgebung am Bosporus. Bild: Shutterstock

Text: Stefan Mothes 

Titelbild: Shutterstock