09-2022
09-2022

Regula Lüscher: „Man darf nie aufhören, Dinge in Frage zu stellen.“

„Eigentlich wollte ich Schauspielerin werden“, erzählt uns Regula Lüscher, Schweizer Architektin und ehemalige Senatsbaudirektorin von Berlin, die sich seit Sommer 2021 aus ihrem Amt zurückgezogen hat. In den einstweiligen Ruhestand versetzt, heißt für sie aber nicht zur Ruhe gesetzt. Als „Stadtmacherin“, wie sie sich selbst bezeichnet, tritt sie als Kooperationspartnerin auf, begleitet Stadtentwicklungs- und Architekturprojekte, berät Führungskräfte im Bereich Architektur, hält Vorträge und gibt Interviews – so wie auch mit uns. 

Faszination Architektur

Als wir näher zu ihrem Werdegang nachfragen, verrät Regula Lüscher, dass das Theater dann doch nicht so ihre Welt gewesen sei. Vielmehr habe sie sich anschließend dem Thema Journalismus zugewandt. Ein Fachgebiet beim Schreiben zu haben, sei dabei schnell wichtig geworden und so kam Regula Lüscher wieder auf die Architektur, die ihr schon seit ihrer Kindheit „sehr nahe“ gewesen sei. Es schloss sich ein Architekturstudium an der ETH Zürich an, welches sie anfangs „nicht gewagt“ hätte. Zu mathematisch, zu naturwissenschaftlich die Vorstellung davon, entsprechend waren auch die Selbstzweifel groß. Dem sei letztlich gar nicht so gewesen – das Studium brachte vielmehr schnell die Faszination für den Architekturberuf zu Tage. Ein Beruf, den Regula Lüscher selbst ausüben und nicht „nur“ darüber schreiben wollte. 

Regula Lüscher – Tochter eines Goldschmieds und „Kind der Moderne“, wie sie selbst sagt – zeigt sich nahbar, wirkt authentisch und gibt Erfahrungen und Erkenntnisse, Berufliches wie Privates preis. Vom Vater habe sie früh gelernt, was Entwerfen bedeute, habe er doch experimentellen Schmuck gemacht. Das Leben und Wirken der Familie sei sehr auf die Moderne ausgerichtet gewesen, die Eltern sehr kulturinteressiert. 

Weltverbesserin

Die Bauhaustradition, mit der Regula Lüscher groß geworden ist, habe später maßgeblich ihre Motivation als Architektin geprägt und geformt. „Ich hatte wirklich das Gefühl, dass meine Aufgabe als Architektin ist, die Welt besser zu machen. Eine sozialere Welt, eine Welt, die gut gestaltet ist.“ Entsprechend hat sie sich besonders für den Wohnungsbau interessiert – ein Bereich, auf den sie sich mit ihrem eigenen Architekturbüro später spezialisieren sollte. Der sozialen Aufgabe, „für die breite Masse gute Architektur zu machen“, wollte sich Lüscher annehmen. Sie sei stets davon überzeugt gewesen, „dass man Räume für Menschen machen muss und dass gute Räume auch gute Menschen machen.“ Der positive Einfluss eines Raumes auf das Wohlbefinden des Menschen – genau das sei es, was Lüscher interessiert. Und genau das sei nach wie vor die gesellschaftliche Verantwortung von Architekten und Stadtplanern. Die entwickelten Städte zu Orten machen, die das Leben der Menschen lebenswerter macht. 

MEINE AUFGABE ALS ARCHITEKTIN IST, DIE WELT BESSER ZU MACHEN.

Regula Lüscher

Ein breites Thema, das laut Lüscher heute noch viel breiter gedacht wird als noch in den 80er Jahren, als ökologische Themen und der Klimawandel noch nicht im Fokus standen. Die ökologische und soziale Nachhaltigkeit sei Teil der Frage, „wie wir es schaffen, Städte und Räume und eine Welt zu schaffen, in der es nach wie vor lebenswert bleibt“, so Lüscher. Und heute ginge es noch einen Schritt weiter, nämlich darum, die Welt zu retten. „Das konnte man sich damals gar nicht vorstellen.“ 

Aus Vergangenem lernen

Das Leben für die Menschen lebenswerter zu machen und soziale und ökologische Nachhaltigkeit in den Fokus zu rücken, war nicht immer auf der Agenda von Architekten und Stadtplanern. Regula Lüscher habe die ganze Entwicklung miterlebt. Wenn sie heute zurückschaut, auf ihre Zeit beim Zürcher Amt für Städtebau beispielsweise, würde auch sie selbst einige Dinge anders machen. „Ich würde heute versuchen, viel mehr unversiegelte Flächen bereitzustellen.“ Entsiegeln, aufbrechen, umgestalten. Versickerungsflächen, viel Grün und Bäume – all das sei nötig. Damals hatte man das Wissen noch nicht. Aber man kann zurückschauen und Lehren ziehen, schauen, was anders gemacht werden muss. Jede Generation müsse neu denken und überlegen, was verändert werden muss. „Man darf nie aufhören, zu denken und Dinge in Frage zu stellen.“ Auch die permanente Veränderung unserer Quartiere, unserer gebauten Umwelt hält Regula Lüscher für wichtig, um sie gesünder und besser zu machen. „Fehler sind kein Scheitern, man muss sie benennen und verbessern.“ Und Stadt verändern heiße nicht tabula rasa, sagt Lüscher, die sich selbst als „Freundin der Denkmalpflege“ bezeichnet und in ihrer Position als Senatsbaudirektorin in Berlin lange Zeit für die Denkmalpflege zuständig gewesen war. 

MAN DARF NIE AUFHÖREN, ZU DENKEN UND DINGE IN FRAGE ZU STELLEN.

Regula Lüscher

Bestandsaufnahme, Politik und Ökonomie

Dass der Bestand nun endlich im Fokus stehe, freut die Schweizerin mit deutscher Staatsangehörigkeit. Dieser habe einen enormen kulturellen und ökologischen Wert. Es sei mühsam, sich mit dem Bestand auseinanderzusetzen, ihn weiterzuentwickeln, doch genau das sei, was wir heute brauchen. Den Bestand „fit machen“ für die neuen Herausforderungen und mit ihm Neues zu schaffen, das müsse möglich sein. Dafür brauche es andere Gesetze, viel höhere Entsorgungsgebühren und -steuern. „Der wirtschaftliche Aspekt regiert immer unsere Entwicklung“, sagt die ehemalige Staatssekretärin für Stadtentwicklung und Wohnen. Entsprechend seien Ökonomen im Zusammenhang mit den Zielen der Nachhaltigkeit extrem wichtig. Laut Lüscher müssen diese die Kostenrelevanz in der ganzen Breite richtig berechnen, „uns erklären, wie wir die Dinge richtig berechnen.“ Aus diesem Grund empfiehlt sie auch eine ökonomische Weiterbildung zusammen mit dem Architekturstudium. 

Für sie selbst sei das Architekturstudium eine „hervorragende Denkschule“ gewesen. Sie habe gelernt, Varianten zu analysieren, auszuwerten, zu verwerfen. Das Wegwerfen von Ideen helfe, die Essenz der Dinge herauszukristallisieren. Der volle Papierkorb sei dabei fast das Wichtigste. All das habe ihr auch geholfen, sich in die Politik hineinzudenken und in Dinge, die nichts mit Architektur zu tun haben. 

Sowieso sei das gesamte Thema der Architektur und Stadtentwicklung „hochpolitisch“, versichert Regula Lüscher. Ein gestalterischer und kreativer, aber eben auch politischer Beruf, bei dem es nicht um einen selbst ginge. Meistens seien es Menschen mit künstlerischer Seite, die von der Architektur angezogen würden. Daneben sind Architekten und Stadtplaner aber auch ganz maßgeblich Gestalter von Gesellschafts- und Kulturpolitik, wie uns die Expertin mit jahrzehntelanger Erfahrung in hochkomplexen politischen Gefügen erklärt. 

Von der heroischen zur sozialen Architektur

Regula Lüscher selbst wurde unter dem Credo geschult, Architektur sei etwas Heroisches, mit heroischen, meist männlichen Vorbildern. Ein Star zu werden, war oberstes Ziel und gleichzeitig die Definition eines guten Architekten. Selbst war auch sie auf diesem Weg unterwegs. Heute gelten andere Werte, Architektur wird breiter gedacht. Entsprechend empfiehlt Regula Lüscher jungen Architekturstudierenden, extrem offen zu sein für die Welt und was sie bewegt, breit aufgestellt zu sein, sich weiterzubilden. Die Welt aufzusaugen und das zu versuchen, in die Arbeit zu integrieren. „Wie sieht der Alltag meiner Großmutter aus, wie sieht der Alltag mit Kindern aus?“ Es ginge darum, eine bessere Welt zu schaffen, für die Menschen zu bauen, damit diese sich wohlfühlen. Man müsse sich jedes Mal fragen, ob „das, was ich jetzt mache, nachher besser ist“. Die Welt „vibrierend wahrzunehmen“ und sich zu sagen: „Es geht in der Architektur nicht um mich, nicht um mein Ego, darum, mich selbst zu verwirklichen.“

ES GEHT IN DER ARCHITEKTUR NICHT UM MICH.

Regula Lüscher

Architektur ohne Bauen

Wie Architektur heute von der nachkommenden Generation gelebt wird, stimmt Regula Lüscher positiv. Als Honorarprofessorin an der UdK Berlin ist sie dort regelmäßig als Gastkritikerin aktiv und beobachtet die Herangehensweise junger Architekturstudierender. „Die jungen Architektinnen und Architekten wollen oft gar nicht bauen.“ Sie würden viel genauer den Bestand untersuchen. Das Interesse für das, was da ist, sei viel stärker. Man sei vernetzter, offener, würde Architektur und Stadtentwicklung viel globaler betrachten und auch die Bevölkerung mit einbeziehen. „An dieser Stelle wäre die beste Lösung, gar nicht zu bauen“, ist da von immer mehr Studierenden zu hören. Eine äußerst interessante Entwicklung, wie Regula Lüscher findet. Es werde viel mehr versucht, Bestehendes zu integrieren. Das Schaffen von Freiflächen, von Grünanlagen zur eigenen Bewirtschaftung, Projekte wie Urban Gardening – all das würde einfließen in die städtebaulichen Konzepte der jungen Architektengeneration. „Es ist eine ganz andere Generation und es macht enorm Mut“, so Lüscher. 

AN DIESER STELLE WÄRE DIE BESTE LÖSUNG, GAR NICHT ZU BAUEN.

Architekturstudenten der UdK Berlin

Berufsbild im Wandel 

Das Berufsbild Architektur würde sich darüber hinaus ebenfalls verändern, so Lüscher. Architektur sei immer weniger die elitäre Männerdomäne, es gebe viel mehr Frauen, die Büros öffnen und führen, fast immer entstünden die Büros als Partnerschaften. Die „24-Stunden-Hingabe“ für den Job würde immer weniger akzeptiert werden, man teile sich Projekte und Aufgaben und versuche, andere Arbeitsmodelle auch in diesem Beruf durchzusetzen. „Das ist so wichtig, denn es macht einen Unterschied, wenn auch Frauen in den Teams sind!“, ist sich Lüscher sicher. Es gebe nicht formal männliche oder weibliche oder queere Architektur. Aber es würde anders über Architektur gesprochen, es wird anders mit den Partnern umgegangen. „Architektur und Stadtentwicklung hat eine geteilte Autorenschaft, das mach ich nicht alleine als Architekt“, erklärt die 60-Jährige. Vielmehr agiere man gemeinsam: mit Verwaltung, Geldgebern, den Bürgern, den Ingenieuren. Architektur sei heute hochkomplex und hochtechnisiert und damit ein „extremes Teamwork“, wie Lüscher erklärt. All das verändere sich zum Positiven, was letztlich auch zu einer anderen Architektur und Stadtplanung führe, „weil sie reflektierter ist, weil sie mehr im Dialog entwickelt wird.“ 

DAS BERUFSBILD IST NICHT DER ALLEINIGE HERO. ARCHITEKTURSCHAFFENDE SIND VERNETZER UND KOMMUNIKATOREN.

Regula Lüscher

„Das ist der Beruf“, gibt die Fachexpertin zu verstehen. „Das Berufsbild ist nicht der alleinige, einsame Hero, sondern Architekturschaffende sind Vernetzer und Kommunikatoren.“ Bei alldem müsse man aber natürlich schlussendlich in der Lage sein, Dinge zu gestalten und so zu gestalten, dass Architektur berührt. „Architektur ist erst Architektur, wenn sie eine Poesie hat.“ Wenn man von ihr ergriffen wird, wenn man das Gefühl vermittelt bekommt, „hier fühle ich mich wohl“, ist Lüscher der Überzeugung. 

Die Poesie der Einfachheit

Selbst ergriffen sei die Hobbyseglerin von den norwegischen Schärenlandschaften mit den einfach gebauten Holzhäusern, die für sie Leichtigkeit, Geborgenheit und Offenheit versprühen. „Das berührt das Herz“. Es ginge nicht um Stararchitektur, sondern vielmehr um kulturell verankertes Bauen, welches sehr einfach sein kann. 

„Es kann sehr einfache Architektur sein, die einen berührt“, so Regula Lüscher.
Foto: © Daniel Kunzfeld

Zutiefst berührt sei sie als Kind auch von der Kirche Notre-Dame-Du-Haut in Ronchamp von Le Corbusier gewesen. Noch nie habe sie ein Raum so sehr beeindruckt. „Ich konnte ihn nicht mehr vergessen.“ Die Philharmonie von Hans Scharoun in Berlin löse bei ihr ähnliche Empfindungen aus, oder aber das Neue Museum von David Chipperfield. Dies sei ein gelungenes Beispiel für das Zusammenbringen von moderner Architektur mit einem Baudenkmal. Alte und neue Teile seien sichtbar, würden aber vollständig ineinandergreifen. 

Die Rolle der Medien

Sowieso müsse Architektur in den Medien über das Aussehen hinweg Betrachtung finden, es müssten viel mehr Fragen gestellt werden: Ist dieser Bau nachhaltig, kann er den Ort verbessern, gibt es soziale Aspekte, die etwas positiv verändern, wird dieser Ort auch ökologisch positiv verändert, was ist der Mehrwert des Gebäudes? Es brauche eine ganz andere Berichterstattung. Und man müsse immer fragen: War das eigentlich überhaupt nötig?

WENN DU ZERSTÖRST, ZERSTÖRE MIT VERSTAND.

Luigi Snozzi, Schweizer Architekt

Luigi Snozzi, ein Tessiner Architekt und großes Vorbild von Regula Lüscher, habe schon in den 60er Jahren gesagt: „Wenn du zerstörst, zerstöre mit Verstand.“ Ohne ein ausgesprochener Ökologe gewesen zu sein, habe er früh erkannt, dass Architekten beim Bauen entweder einen Teil der Natur zerstören oder aber ein bestehendes Gebäude, wenn man eben neu baut. Er sei der Überzeugung gewesen, dass es „wirklich einen Mehrwert geben muss, dass es nachher besser sein muss“, erklärt Lüscher. Er habe bereits gespürt, dass Architekten erst einmal „Zerstörer“ sind. Eine Verantwortung, die laut Lüscher von den Medien viel stärker reflektiert werden müsse.


Interview geführt von: Marit Albrecht

Titelfoto: © Lidia Tirri