05-2023
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„Wir bauen tagtäglich Stadt, die furchtbar unmenschlich ist!“ — Wie sich die Architektur in Zukunft ändern muss

Die Herausforderungen für die Städte von heute sind vielfältig: Klimawandel, Isolations- und zugleich Dichtestress, steigende Mietpreise, Sanierungsbedarf, nötige Anpassungen durch Energie- und Verkehrswendeanforderungen. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Der Architekt und Mobilitätsexperte Max Schwitalla ist der Meinung, dass wir „tagtäglich Stadt bauen, die furchtbar unmenschlich ist“. Er hält es für nötig, dass wir Stadt „ganz neu denken“ und bestehende Denkweisen hinterfragen und aufbrechen. Mit den Entwürfen seines Architekturbüros will er provozieren und anregen, über Stadt ganz neu nachzudenken und zu diskutieren.

Die furchtbar unmenschliche Stadt

Laut Schwitalla sind die Städte von heute aus Mobilitätsperspektive heraus „Menschen-Vereinzelungsanlagen“. Dabei unterscheidet er vereinfacht ausgedrückt zwischen der horizontalen und der vertikalen Vereinzelung. „Die Menschen arbeiten an einem Ort und wohnen an einem anderen. Dazwischen bewegen sie sich mit dem Auto. Das nennt er die horizontale Vereinzelung. Bei der vertikalen Vereinzelung würden sich die Menschen wie „in Hühnerställen“ stapeln – die Vereinzelung erfolge in der Vertikalen. Hier ist der Aufzug das treibende Fortbewegungsmittel.

Wir als Architekten und Stadtplaner können viel leisten, wenn wir wieder den Menschen in den Mittelpunkt stellen.

Max Schwitalla, Architekt und Mobilitätsexperte

„Wir gehen doch eigentlich in die Stadt, um uns zu begegnen. Doch inwiefern ist Stadt überhaupt noch eine Begegnungsstätte?“ Laut Schwitalla werden Städte durch Gentrifizierung und kommerzielle Mechanismen zu Trennern, die nicht mehr zum Zusammenleben einladen. Neben den bekannten Problemen, dass Städte viel zu teuer werden und CO2-Produzenten sind, sieht Schwitalla die Mobilität als wichtige Stellschraube, um zu lebenswerteren, CO2-ärmeren und nachhaltigeren Städten zu gelangen.

Stadt und Gebäude als Begegnungsraum

Das Studio Schwitalla arbeitet dabei nach ihrem Entwurfsleitfaden, wie aus allen Bewegungs- oder Erschließungsräumen in der Stadt soziale Begegnungsräume werden können. Das schließt auch die Räume innerhalb von Gebäuden ein, wie Treppenhäuser oder Eingangsbereiche. Umgesetzt hat das vierköpfige Studio mit Sitz in Berlin diesen Leitfaden anhand eines Projektes in Tübingen: In einem mehrgeschossigen Wohngebäude, dem „Tübinger Regal“, leben seit 2019 Geflüchtete und Studenten auf vier Etagen zusammen. Es gibt „kein dunkles Treppenhaus, wo man sich nicht begegnet, sondern eine offene Laubengangerschließung und offene Freitreppen.“ Alle sogenannten Erschließungsräume und Geschosse sind als Begegnungsraum konzipiert. Das schaffe eine temporäre Aufenthaltsqualität und bringe die Menschen zusammen, anstatt sie zu trennen und zu isolieren. „Die Menschen laden sich auf den Balkonen zum Abendessen ein, kommen auf den Gängen ins Gespräch. Jedes Mal, wenn ich dort bin, schaue ich es mir an und die Bewohner sagen mir immer wieder, dass sie wie eine Familie geworden sind. Es ist schön zu sehen, dass es funktioniert“, schildert Schwitalla stolz.

Fotos: © Laurian Ghinitoiu

Das „Tübinger Regal“ beherbergt Geflüchtete und Studenten.

Die offene Laubengangerschließung bringt die Bewohner zusammen, anstatt sie zu trennen.

Das Architekturbüro „Studio Schwitalla“ hat alle Erschließungsräume als Begegnungsraum konzipiert.

Die autoarme Stadt

Genau dieses Konzept ist nun für einen größeren Maßstab angestrebt. „Wir haben lange im Quartiersmaßstab entworfen und wollten den Menschen zeigen, wie Quartiere alternativ aussehen können. Momentaner Forschungsschwerpunkt seien daher die sogenannten Mobility Hubs. Ein Mobility Hub ist ein Stadtbaustein, wie Max Schwitalla erklärt. Autos würden geparkt und alternative Mobilitätsangebote die Quartiere beleben. Wenn Stadtviertel erst einmal autofrei würden, könne neuer Denkraum entstehen. Auf diese Weise könnten die Menschen verstehen, dass wenn keine Autos mehr da sind, plötzlich Raum für andere Qualitäten und Nutzungen frei wird. „Ich glaube, diesen Schritt braucht es erst“, erklärt der Wahlberliner, der mit seinem Studio seit zwei Jahren an einem interdisziplinären Forschungsprojekt zu Mobility Hubs in Hamburg Oberbillwerder in Kooperation mit der IBA arbeitet, das vom Bund gefördert wird.

Die Idee hinter dem Mobility Hub: Parken und Umsteigen auf alternative Mobilitätsangebote im Quartier. Zusätzliche Nachbarschaftsfunktionen im Erdgeschoss und auf Dächern.
© Audi Urban Future Award, Studio Schwitalla

„Momentan planen wir die Quartiere immer noch mit dem Auto im Kopf. Wenn wir aber nun sagen, dass wir zu Fuß gehen oder mit dem Rad fahren, dann können wir viel kleinteiliger entwerfen und ganz andere Maßstäbe setzen.“ Schwitalla schwebt dabei auch so etwas wie eine E-Bike-City vor, ein dreidimensionaler Stadtraum, den sich die Bewohner neben Aufzug und Treppe bequem mit elektrischen Fahrrädern erschließen. „Wenn wir so weit sind und die Mobility Hubs funktionieren – also die Leute ihre Autos darin stehen lassen – dann können wir den nächsten Schritt gehen und die Quartiere ganz neu denken und entwerfen“, so der 42-Jährige, der selbst autofrei lebt und sich am liebsten mit dem Fahrrad fortbewegt.

WIR DÜRFEN ALS ARCHITEKTEN NICHT MEHR AM ENDE DER NAHRUNGSKETTE SITZEN.

Max Schwitalla, Architekt und Mobilitätsexperte

Die Arbeit an solchen Projekten ist interdisziplinär und eine komplexe Teamaufgabe. „Wir sind nur ein Teil mit der Architektur“, erklärt Schwitalla. Es brauche Projektentwickler, Betreiber, Verkehrs- und Quartierplaner, Ingenieure, Architekten. Und in Pforzheim arbeite das Studio Schwitalla ebenfalls zum Thema Mobility Hub mit der städtischen Entwicklungsgesellschaft zusammen. Gemeinsam Teil der Lösung sein, um die riesigen Herausforderungen der Urbanisierung angehen zu können, hält Schwitalla für wichtig. Kleinere Städte seien da zum Teil viel agiler und könnten schneller auf die Dinge reagieren. Zudem müsse man Mobilität, Urbanität und Architektur zusammendenken, um Städte zu lebenswerteren und zukunftsfähigeren Orten zu gestalten.

Das Modell „Urbanes Regal“ von Studio Schwitalla.

Leben und Arbeiten spielt sich auf verschiedenen Ebenen ab.

Entwurfsleitfaden des Studio Schwitalla:

Alle Erschließungsräume …

… sollen Begegnungsräume werden.

Herausforderungen & Architektur von morgen

Sowieso müsse man als Architekten wieder viel mehr interdisziplinär arbeiten. „Alleine haben wir gar keine Chance“, so Schwitalla. „Wir müssen auch mit der Industrie ins Gespräch kommen und Kooperation eingehen. Wir arbeiten des Weiteren auch mit der Charité Berlin zusammen.“ Gemeinsam mit den Neurowissenschaftlern ginge es darum, welcher Stadtraum sich gut anfühlt. Schwitalla hält es für wichtig, dass sich Architekten und Stadtplaner im gesamten Entscheidungsprozess weiter nach vorn bringen. „Wir dürfen nicht mehr am Ende der Nahrungskette sitzen. Dazu gehört es, dass wir uns auch in der Politik engagieren!“, appelliert der Architekt.

Die Herausforderungen, die auf uns zukommen würden, seien enorm. Man müsse dafür mit der kommenden Generation ins Gespräch kommen und diese vorbereiten. „Die Zeit des Stararchitektentums ist zum Glück vollkommen vorbei. Das können wir uns gar nicht mehr leisten. Die nächste Generation hat das verstanden.“ Vielmehr ginge es bei der Architektur darum, den Herausforderungen des Klimas und den Notwendigkeiten von Nutzern gerecht zu werden. „Wir als Architekten und Stadtplaner können da viel leisten, wenn wir wieder den Menschen in den Mittelpunkt stellen“, so das Statement des Berliners.


Text: Marit Albrecht

Titelbild: © Shutterstock

Renderings (wenn nicht anders gekennzeichnet): © Studio Schwitalla