10-2024
10-2024

Zwischennutzung oder heiliges Käse-Fondue im ehemaligen Nachrichtendienst

Auf dem Weg ins Büro begegnen mir im Flur ungefähr fünfzig Paar Schuhe. Nur die Hälfte davon findet ordentlich aufgestellt Platz in einem erschreckend instabil wirkenden Schuhregal. Während ich noch darüber nachdenke, dass die Menschen hinter der Tür alle auf Strümpfen unterwegs sein müssen, drücke ich im Aufzug auf die Taste für den dritten Stock. Die Stockwerke sind mit Namen beschriftet wie „Golden Gate“ und „Sky Lounge“. Vorbei an mit weißer Spitze verhängten Räumen, die einzelne Büroeinheiten voneinander trennen, und aufdringlich motivierenden Sprüchen an den Wänden, erreiche ich schließlich mein Büro. Willkommen in der Mollstraße 1. Ein unkonventionelles Büro. Eine klassische Zwischennutzung.

Foto: © TOMAS

Mitten in Berlin, unmittelbar am Alexanderplatz, steht ein Bürogebäude. Dieses Haus hat viel gesehen. Zwanzig Jahre war hier der Sitz der DDR-Nachrichtenagentur Allgemeiner-Deutscher-Nachrichtendienst, wo bis 1992 Zeitungen verlegt und gedruckt wurden. [1] Mit dessen Ende übernimmt erst 2013 eine Folgenutzung die Räume als Verwaltungsgebäude. Mit dem Auszug der letzten Mietpartei steht das Haus nun leer. Die geplante zukünftige Nutzung verzögert sich – wie so viele Bauprojekte dieser Tage. So stehen 15.000 Quadratmeter und neun Stockwerke leer. Und genau auf dieser Fläche ergibt sich für die Gesellschaft die Gelegenheit, sich auszuprobieren.

Wo Mieten bis zu 80 Euro pro Quadratmeter gehandelt werden, vermietet das Schweizer Unternehmen Projekt Interim die gesamte Fläche flexibel unterteilt und vor allem bezahlbar als Zwischennutzung. Wo früher gedruckt wurde, wird jetzt Kunst geschaffen, werden Filme gedreht und Bibelstunden gegeben. Neben klassischen Büronutzungen für Unternehmen in der Gründungsphase wird genäht, Fahrräder werden gebaut und Süßwaren verschickt. Die Diversität der Zwischennutzung übersteigt jede Vorstellungskraft. Dieser Ort zeigt, was passiert, wenn Raum einer engagierten Gesellschaft überlassen wird. Das nicht Kuratierte, im positivsten Sinne, ermöglicht es, aus einem leeren Raum ein vibrierendes Gefüge heterogener Nutzungen entstehen zu lassen.

Nicht weit entfernt gibt es eine deutlich größere Zwischennutzung. Das Modellprojekt ‚Haus der Statistik’. Seit 2015 ist das Ensemble in der Hand von Bürgerinitiativen, Künstler:innen und Planeri:nnen, die den Abriss des Gebäudes und den Verkauf an Investoren kreativ verhindern konnten. Hier wird bereits seit fünf Jahren eine sogenannte Pioniernutzung betrieben und zukünftige Nutzungen (aus)geübt. Soziale Unternehmen wie Material Mafia finden hier einen Ort, von dem aus Reststoffe als wertvolle Ressource weitervermittelt werden. BAUFACHFRAU bietet in einer ReUse-Holzwerkstatt Workshops und Seminare an. Durch diverse Interimsnutzungen eignet sich die Nachbarschaft, gemeinsam mit Besucher:innnen und Akteur:innen, den Ort für Zusammentreffen und Austausch an. Alle Nutzungen dürfen sich als Pioniere über einen abgestimmten Zeitraum etablieren, bis es an dem Standort zukünftig weitergeht.

Ungenutzte Gebäude sind ungenutztes Potential und führen nicht selten zu Verwahrlosung und schließlich zu Abriss. Kurz gesagt „Leerstand ist Stillstand“. So nennt es das Projekt Leerstandsmelder. Eine weitere Initiative, die auf mögliche Zwischennutzungen aufmerksam macht, indem sie Leerstände deutschlandweit dokumentiert. 

Weitere Plattformen, die sich kurzfristiger Leerstandsaktivierung annehmen, sind:

Transiträume Berlin e.V.

Leerstandslotsen

Adapter Stuttgart e.V.

Eins A Lage

Urbane Liga

Flexible Stadtentwicklung und reflektierte Bestandshalter:innen sollten Leerstände als Experimentierfelder betrachten. Allein in Berlin sind aktuell über 1000 Leerstände verzeichnet. [2] Während Umplanungsprozesse und Umbauprojekte langsame, träge Kandidaten sind, könnten schnelle, flexible Zwischennutzungen einen Schatz an Raumvakua heben. In dieser Interimsphase darf und sollte frei experimentiert und unkompliziert das Ungewöhnliche unbürokratisch ausprobiert werden. Dabei darf man feststellen, dass Orte davon profitieren, wenn sich Menschen diesem mit ihren Bedürfnissen annehmen und zu eigen machen. Das Engagement schafft darüber hinaus Identität und diese ein Verantwortungsbewusstsein für unsere Umwelt und wie wir miteinander leben wollen.

Zwischennutzungen sind vorübergehende Aneignungen von Räumen, die keine primäre Nutzung mehr haben. Bevor wertvoller Raum ungenutzt bleibt, können Zwischennutzungen als Reallabore und Testräume dienen. Die Flexibilität und Vielseitigkeit der Projekte wird Optionen und Perspektiven aufzeigen, die durch ihr Dasein ihre Berechtigung nicht mehr verteidigen müssen und zukünftige langfristige Nutzungen positiv beeinflussen. Nicht unerwähnt sollen die wunderbaren, teilweise skurrilen zwischenmenschlichen Begegnungen bleiben, die geschehen, wenn die eigene Bubble in der Teeküche auf die andere trifft.

Mut zu Zwischennutzungen. Der Bestand ist da. Leerstand ist real. Lasst uns die leeren Räume aktiv füllen. Wer sich selbst ein Bild machen will, ist willkommen, bei uns im Büro vorbeizuschauen. Ende des Jahres wird es im obersten Geschoss ein Fondue Pop-Up-Restaurant mit Blick über Berlin geben. Und wer Lust bekommt, sich selbst zu entfalten, folge dem Käseduft, es sind noch Flächen frei. [3]

Foto: © TOMAS

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/ADN-Gebäude, 14.10.2024

[2] https://leerstandsmelder.de,14.10.2024

[3] https://projekt-interim.com/projekt/mollstrasse-1-berlin/


Dieser Text ist Teil einer wiederkehrenden Kolumne von TOMAS – Transformation of Material and Space. TOMAS setzt sich für die Bauwende ein und bezeichnet sich selbst als „sozialverträgliche Architekturunternehmung”. Dahinter stehen Sofia Ceylan, Architektin und Nachhaltigkeitsmanagerin, Dr.-Ing. Katharina Neubauer, Architektin, Dozentin und Expertin für Datenzentren und Annabelle von Reutern, Architektin, Speakerin und Expertin für zirkuläres Bauen.

Text: Sofia Ceylan

Titelbild: © Shutterstock